75 Jahre LFI: Blicke in die Zukunft (2)

Sitara Ambrosio

16. September 2024

Seit zwei Jahren dokumentiert die Fotografin das Leben queerer Menschen in der Ukraine. Die kleinen Momente der Nähe, der Wärme und der Zärtlichkeit – all das gibt ihr dabei Hoffnung.
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„Zwischen Raketenalarm und Alltag versucht Mino Chumachenko (18) durchzuatmen, während am Fenster des Kyjiwer Linienbusses ein Umspannwerk vorbeizieht. Mit mehreren Hundert Drohnen und Raketen hatte Russland heute, kurz nach dem 33. Unabhängigkeitstag, die ganze Ukraine beschossen. Auch die Hauptstadt. Am Morgen erschütterten Explosionen Kyjiw.

Vor zwei Jahren lebte Chumachenko im Süden der Ukraine, in der Stadt Kherson. Unter russischer Besatzung wagte er kaum noch, das Haus zu verlassen. Zu groß war die Angst vor den Besatzern, denn Chumachenko ist trans und gehört der LGBTQ-Community an. ‚Es ist gefährlicher, wenn du queer aussiehst, als wenn man es dir nicht direkt ansieht‘, erzählt Chumachenko vom Leben unter der Besatzung. Als Kherson fiel, versteckte er alles, was auf die Transidentität hätte schließen lassen können – auch Kleinigkeiten, wie einen Stift mit einer Trans-Flagge darauf. Irgendwann floh Chumachenko mit seiner Familie und lebt jetzt allein in Kyjiw. Seit Chumachenko sich geoutet hat, ist das Verhältnis zu seiner Mutter schwierig. Aktuell arbeitet er im Kundendienst bei einer Firma und träumt davon, irgendwann Medizin in Deutschland zu studieren.

Seit über zwei Jahren tobt nun Krieg in Europa. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 steht die mit dem Euromaidan eingeleitete politische und gesellschaftliche Reformation des Landes auf dem Prüfstand. Auch die Rechte queerer Menschen. Denn Krieg trifft bereits marginalisierte Menschen besonders. Gleichzeitig geraten ihre Perspektiven im Zuge bewaffneter Konflikte immer wieder in den Hintergrund. In der Ukraine sind Menschen der LGBTQ-Community ganz verschiedenen Gefahren ausgesetzt. In den besetzten Gebieten vor allem der russischen Armee.

Ich wünsche mir nichts sehnlicher als Frieden für die Menschen hier in der Ukraine. Dass die internationale Solidarität nicht aufhört. Dass gerade wir in Europa, uns immer wieder an die Realität hier in der Ukraine erinnern.
Text und Bild: Sitara Ambrosio
EQUIPMENT: Leica SL2-S, Vario-Elmarit-SL 1:2.8–4/24–90 Asph

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© Annika Weertz

Die 2002 geborene deutsche Fotojournalistin wuchs in einer Arbeiterfamilie mit slowenischen Wurzeln auf und lebt aktuell in Hannover. Ihre Berichterstattung fokussiert sich vor allem auf medial unterrepräsentierte Aspekte von Konflikten. Meist arbeitet sie zu Geschlechterfragen, Migration und Menschenrechtsverletzungen – in Deutschland, auf dem Balkan, in Osteuropa und im Nahen Osten. Ambrosio integriert ihre Arbeiten immer wieder in ehrenamtliche Bildungsangebote, wie z. B. Vorträge und Workshops an Schulen und in Jugendzentren. Ihre Arbeiten werden regelmäßig ausgestellt und wurden wiederholt ausgezeichnet. Unter anderem erhielt sie, gemeinsam mit einem Team, 2022 den Grimme Online Award für die Multimedia-Reportage Kandvala. Sie wird vertreten durch die Agentur Laif. Mehr

 

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