Die Geschichte zum Cover

Omar Al-Jiwari

16. Dezember 2024

Bei einem Besuch im Haus der Sklaven auf der Insel Gorée liefen dem Fotografen einige Motive vors Objektiv. Doch erst mit der tiefstehenden Nachmittagssonne erreichte er die gewünschte Stimmung und die Symbolkraft, die dem geschichtsträchtigen Ort angemessen sind.
„Gorée ist eine kleine, ruhige Insel mit engen Straßen, gesäumt von bunten Gebäuden, doch ihre friedliche Erscheinung steht in scharfem Gegensatz zu ihrer tragischen Vergangenheit: Über Jahrhunderte war die Insel ein Umschlagplatz für den transatlantischen Sklavenhandel; sie war ein Ort, an dem zahllose Männer, Frauen und Kinder aus ihrer Heimat gerissen und in die Ungewissheit geschickt wurden. Als ich mich entschied, diesen symbolträchtigen Ort zu besuchen, war mir klar, dass es eine zutiefst bewegende Erfahrung sein würde – emotional wie kreativ.

Ich streifte über die Insel, um ihre Atmosphäre auf mich wirken zu lassen. Das sogenannte Haus der Sklaven zog mich besonders an – nicht nur wegen seiner historischen Bedeutung, sondern auch wegen seiner Fähigkeit, Erinnerungen auf so eindringliche Weise lebendig zu halten. Mein erster Besuch um 12:30 Uhr wurde abrupt beendet, als ich erfuhr, dass die Stätte um 13 Uhr schließt. Diese unerwartete Wendung führte jedoch zu einem ungeplanten Moment der Schönheit: Während der Wachmann seine Trillerpfeife blies, um das Schließen zu signalisieren, eilte eine junge Frau in einem wallenden grünen Kleid Richtung Ausgang. Ihre Bewegung war auffallend anmutig, ihr Kleid flatterte in der Luft und erschuf eine Szene, die fast poetisch wirkte. Ich hielt diesen flüchtigen Moment fest – wusste jedoch, dass es noch nicht genug war. Das grelle Mittagslicht passte nicht zur Emotion, die ich vermitteln wollte. Also beschloss ich zurückzukehren.
Um 17 Uhr, als die Sonne tiefer am Himmel stand, hatte ich die Gelegenheit, das Haus der Sklaven in einem weicheren, dramatischeren Licht wiederzuentdecken. Die goldene Stunde veränderte alles: Die Schatten wurden länger, die Texturen der ockerfarbenen Wände kamen stärker hervor, und die Atmosphäre gewann eine nachdenkliche Tiefe. Ich experimentierte mit verschiedenen Blickwinkeln, Bildausschnitten und Kompositionen, um die Essenz dieses Ortes einzufangen. Doch zunächst hat sich keines meiner Bilder „richtig“ angefühlt.

Dann, in den letzten Minuten meines Besuchs, entfaltete sich diese Szene: Zwei Männer in weißen Hemden traten in mein Bild. Einer stand im Schatten, der andere war in das warme, schräg einfallende Licht der untergehenden Sonne getaucht. Der Kontrast fiel mir sofort auf. Das Spiel von Schatten und Licht schien die Narrative dieses Ortes widerzuspiegeln: Unterdrückung und Freiheit, Schmerz und Schönheit. Diese beiden Gestalten, anonym und doch kraftvoll, verkörperten eine zeitlose Geschichte. Sie waren nicht nur Individuen in meinem Foto – sie wurden zu Symbolen der zahllosen Leben, die durch diese Mauern gegangen waren.

Was dieses Foto bedeutungsvoller macht als das frühere, das ich aufgenommen hatte, ist seine Vielschichtigkeit. Während das erste Bild ästhetisch ansprechend war, überschreitet dieses die reine visuelle Attraktivität. Es lädt zur Interpretation ein. Der scharfe Kontrast zwischen den weißen Hemden und den Schatten und dem Licht erzählt von Gegensätzen.

Ich verließ das Haus der Sklaven sehr erfüllt. Dieses Foto fasst alles zusammen, was ich einfangen wollte: die Architektur, das Licht und vor allem die Erinnerung. Für mich ist es eine Hommage an die Widerstandsfähigkeit derer, die vor uns waren, und eine Erinnerung daran, wie die Geschichte uns auch im Stillen weiterhin prägt.“
© Omar Al-Jiwari

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Mit seiner Leica schuf Robert Frank ab Mitte der 1950er-Jahre eines der bis heute wichtigsten Bücher der Fotografiegeschichte – sehen Sie in der aktuellen Ausgabe eine Hommage an „The Americans“. Zudem einführt Sie Omar Al-Jiwari in das senegalesische Straßenleben und Rena Effendi auf ein marokkanisches Rosenfestival. Außerdem im Heft: Sozialistische Architektur in Szene gesetzt von Anush Babajanyan und normannische Fischer von Ciro Battiloro. Mehr

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©Francois Constant

Die Leidenschaft für das Visuelle erfasste den in Bagdad geborenen Fotografen erst vor wenigen Jahren, nachdem er zuvor als Software Engineer gearbeitet hatte. Der in Paris lebende Al-Jiwari wurde kürzlich auf dem Salon de la Photo mit dem Publikumspreis ZOOMS 2024 ausgezeichnet und stellte seine Arbeiten im Leica Store Paris aus. Sein Portfolio baut er indes mit internationalen Ambitionen aus.  Mehr

 

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Omar Al-Jiwari