Buchtipp: The History War

Larry Towell

20. August 2024

Ein sehr persönliches Erinnerungsbuch aus der Ukraine. Schockierend direkt und dabei ungewöhnlich in der Gestaltung.
Wütende Zeugenschaft, gewaltige Dokumentation, erbarmungslose Bilder: Das neue Buch des Magnum-Fotografen Larry Towell ist schwer zu ertragen. Und doch scheint es nötig. Denn der Krieg in der Ukraine geht unvermindert weiter – schonungslos und brutal. Auf 372 Seiten mit Hunderten von Bildern konfrontiert uns der Fotograf mit seinen Erfahrungen aus den letzten zehn Jahren. „Ich glaube, dass dieses Projekt ein wichtiges Zeugnis für eine politische Krise ist, die die internationalen Beziehungen prägen und in den kommenden Jahrzehnten nachhallen wird“, sagt der Fotograf. „Es ist auch eine Herausforderung für eine Welt, die von Nachrichtenbildern übersättigt ist.“ In der Tat: Keine Agentur, kein Magazin würde einige dieser Bilder zeigen. Der Tod war ein ständiger Begleiter, die Leichen, die Towell gesehen und auch fotografiert hat, sind nicht zu zählen. Immer wieder auf den Auslöser seiner Kamera zu drücken war für ihn eine notwendige Entscheidung – auch um die Kriegsverbrechen irgendwann einmal aufzuarbeiten und zu sühnen.

Zum ersten Mal war Towell zur Zeit des Maidan-Aufstands im Jahr 2014 in der Ukraine und wurde Zeuge der letzten Tage der gewaltsamen Zusammenstöße zwischen den Demonstranten und der Polizei in Kiew. Aus diesen Erfahrungen beschloss der Fotograf, sich langfristig mit der Geschichte und den Umwälzungen in der Ukraine zu beschäftigen und über die Jahre immer wieder zurückzukehren. So befasst sich das zweite Buchkapitel mit dem verwüsteten Gebiet von Tschernobyl, dem Ausgangspunkt der Nuklearkatastrophe vom April 1986. Towell war 2017 nahe der Sperrzone unterwegs, übertrat illegal auch deren Grenzen und wurde dabei von der Polizei gestellt. Sein Glück: Da er Kanadier ist, war es den Wachleuten zu mühsam, ihn zu verhaften. Viele Ortschaften werden heute wieder von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten besiedelt, die gesundheitlichen Gefahren scheinen weniger schwer zu wiegen als die Bedrohungen des Krieges. Die weiteren Kapitel befassen sich mit Towells Zeit im östlichen Donbass 2018, einem Einsatz bei der ukrainischen Armee in Bachmut, seiner Zeit mit Separatisten in Donezk und Luhansk und schließlich mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine und dessen grausamen Folgen, einschließlich harter Bilder von der Exhumierung von Zivilgräbern und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Butscha.

The History War ist für den Autor schlicht ein „Buch einer Person über die Ukraine“, ein subjektives Geschichtsbuch, das den jahrhundertelangen Freiheitskampf der Ukrainer würdigt. Durch seine Gestaltung sprengt der Bildband gängige Publikationsformen und stellt somit auch die Möglichkeiten eines Fotobuchs infrage. Um die historische Komponente einzubeziehen, nutzt Towell massenweise gefundenes Bildmaterial. Einen Wust aus weggeworfenen Ephemera: historische Familienbilder, Werbemotive, Spiel-, Hotel- oder Postkarten, zerdrückte Zigarettenschachteln, Hinterlassenschaften der russischen Soldaten. Die Collagen sind vielschichtig, es finden sich weiterhin Reproduktionen alter Einsteckalben, die mit neuen Kriegsbildern gefüllt sind. Und auch die Bilder zerschossener Denkmäler erzählen von vergangenem Ruhm und Zeitläuften. So ist ein höchst eigenartiges, wirkmächtiges Werk entstanden, das mit den Berichten und Fundstücken des Fotografen die Buchdeckel fast zu sprengen scheint, auf jeden Fall über eine klassische bildjournalistische Kriegsberichterstattung weit hinausgeht.
Ulrich Rüter
Alle Bilder auf dieser Seite: © Larry Towell/Magnum Photos

The History War+-

cover

Fotografien, Layout und Text: Larry Towell
372 Seiten, Schwarzweiß- und Farbabbildungen + Ephemera
19,9 × 25 cm, Englisch
1. Auflage – September 2024
Gost

Larry Towell+-

wurde 1953 geboren und wuchs als Sohn eines Automechanikers in einer Großfamilie im ländlichen Ontario, Kanada, auf. Er studierte Bildende Kunst an der York University in Toronto. Nach einem Freiwilligeneinsatz in Kalkutta im Jahr 1976 begann er zu fotografieren und zu schreiben. Nach seiner Rückkehr nach Kanada unterrichtete er Volksmusik, um sich und seine Familie zu ernähren. Gleichzeitig dokumentierte er den Krieg der Contras in Nicaragua und berichtete über die Angehörigen der Verschwundenen in Guatemala. 1984 machte er sich als Fotograf und Schriftsteller selbstständig und konzentrierte sich auf soziale und gesellschaftliche Themen. Seit 1988 ist er Mitglied in der Agentur Magnum. 1996 war er Gewinner des Leica Oskar Barnack Awards mit seiner Serie über die Mennoniten. Mehr

1/10
1/10

Buchtipp: The History War

Larry Towell