Buchtipp: Evening Standards

10. Dezember 2024

Mit seinem neuen Künstlerbuch hat der österreichische Fotograf Erwin Polanc den Rhythmus der englischen Metropole London eingefangen. Der Bildband zeigt eine düstere Atmosphäre voller Widersprüche in der Post-Brexit-Ära.
Schon die ersten Seiten, nachdem man das großformatige Buch mit leuchtendem Cover in Orange- und Türkistönen in die Hand genommen hat, geben den Ton vor. Das Vorsatzblatt des Buches zeigt ein fast schwarzes Bild, auf dem sich nur schemenhaft Schnürstiefel und Hosenbeine erkennen lassen, gefolgt von einem zackigen Designsymbol auf der nächsten Seite, das an eine mythische Gargoyle-Figur der Kirchenschmuckarchitektur erinnert, ergänzt mit der Aufforderung „Breathe for the power“. Erst dann die erste Fotografie: eine kauernde Gestalt auf grauem Pflaster, die sich offenbar die Schuhe bindet. Kein gewöhnlicher Auftakt zu einem Porträt der britischen Hauptstadt, und doch gibt dieser Beginn den Takt des gesamten Künstlerbuches vor. Seitenfüllende Porträts von Passanten, die im engen Ausschnitt nichts vom Stadtraum preisgeben, gefolgt von Straßenszenen oder an Stillleben erinnernden Arrangements, bei denen zumeist eine dunkle Atmosphäre vorherrscht, nur selten blitzt strahlende Farbe auf. Am Ende ein Motiv mit zerbrochenen rohen Eiern auf dem Asphalt. Deutlich wird: Hier geht es nicht um Stadtmarketing, und es ist auch kein weiteres Buch zur Street Photography, bei dem der Fotograf spontan den urbanen Raum nach zufälligen, überraschenden Momenten abscannt. Polanc hat jedes seiner Bilder genau vorbereitet, hat mit Stativ, Fachkamera und Blitzlicht präzise Bildstudien erarbeitet, um sich verschiedenen urbanen Schichten und Geschichten zu nähern.

Als weiterer Buchteil folgt dann eine Auswahl von Schlagzeilen des titelgebenden Evening Standards, einer kostenlosen werbefinanzierten Zeitung, datiert vom 3. Januar bis 31. März 2023. Genau der Zeitraum des Aufenthalts des Fotografen in London, der durch ein Stipendium des Auslandsatelierprogramms des österreichischen Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport ermöglicht wurde. Die Idee, als Ergebnis ein Buch zu präsentieren, entstand schon vor der Reise: „Deshalb hatte ich vor Ort eine sehr arbeitsintensive Zeit. Ich war in einem ständigen Entwurfsprozess“, erinnert sich Polanc. „Ich habe die Stadt als Experimentierraum begriffen. In dieser Post-Brexit-Atmosphäre der Hauptstadt hatte ich manchmal ein zwiegespaltenes Gefühl. Es war für mich beeindruckend, zu sehen, was der Kapitalismus bewirken kann – andererseits war es auch erschreckend, was geschieht, wenn nicht genug Geld vorhanden ist. Diesen Kontrast nahm ich sehr oft wahr.“ Diese Erfahrung bestimmte auch die Entscheidung, einen dunkleren Blick auf die Stadt zu werfen: „Viele Bilder wurden in der Nacht, im Schatten oder in Mischlichtsituationen gemacht.“

Auch das neueste Buch des Grazer Fotografen (*1982) zeigt die Akribie seiner forschenden Herangehensweise. Standen in seinem ebenfalls mit dem Gestalter Oliver Klimpel entwickelten Buch Mago Über Verritt (2019) die Wahrnehmung und das Sehen selbst im Vordergrund, führt er diese Vorgehensweise im neuen Buch zwar weiter, ermöglicht aber deutlich nachvollziehbarere Zugänge. Eine spannende Stadterkundung, die innerhalb der stringenten Sequenzierung und Bilderreihung des Buches zum Ereignis wird.
Ulrich Rüter
Alle Bilder auf dieser Seite: 2024 © Erwin Polanc

Erwin Polanc: Evening Standards+-

Cover EP ES LFI 1

108 Seiten, 78 Farbabbildungen
26,8 × 34 cm, Englisch
Text und Design: Oliver Klimpel
Auflage: 300
Distanz Verlag

Website Erwin Polanc
Instagram Erwin Polanc

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Buchtipp: Evening Standards