Buchtipp: The End Is Near, Here

7. Oktober 2024

Harte Einblicke in die Abgründe der amerikanischen Gesellschaft, auf deren Spaltung sich im Wahljahr umso mehr ein Hinsehen lohnt. Ein Bildband als Trauerarbeit über Verluste.
Der Glaube an das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ist längst fragwürdig geworden, der große amerikanische Traum ist ausgeträumt, das Land zerrissen in sozialen und politischen Gegensätzen – am Ende, so scheint es. Spätestens der Blick auf die Fotografien des neuen Bildbandes lassen nichts Gutes für die Zukunft erhoffen. Und doch liefert der Bilderrausch des deutschen Fotografen Verständnishilfen für den aktuellen Zustand der USA.

Michael Dressel, 1958 in Ost-Berlin geboren, aufgewachsen in der DDR-Diktatur und mit der Erfahrung einer zweijährigen Haftzeit nach einer gescheiterten Republikflucht, lebt seit fast 40 Jahren in den USA. Doch er hat noch immer den Blick von außen, auch wenn er als Sound Editor in Hollywoods Filmbranche eine erfolgreiche Karriere machte. Seine Bilder mögen daher nicht ohne Grund wie aus dem Gruselkabinett von Horrorfilmen erscheinen, die Konstellationen der abgebildeten Protagonisten sind filmisch arrangiert. Doch sie zeigen Ausschnitte einer aufgebrachten Realität. Die schwarzweißen Aufnahmen geben schlaglichtartig Einblicke in eine offenbar nicht mehr funktionierende Gesellschaft in ihrer Mischung aus extremem Nationalismus, politischer Polarisierung, religiösem Fanatismus, Waffenfetischismus, käuflichem Sex, offenbar allgegenwärtiger Armut und moralischem Verfall. Die Porträts sind schonungslos, die wenigen in die Bildabfolge hineingestreuten Landschaften sind kaum weniger erschreckend düster, und so ergibt sich ein Gesamtbild, das von „einem Logenplatz in der Hölle“ aufgenommen zu sein scheint, wie es der Titel des begleitenden Essays von F. Scott Hess behauptet. Für das Kaleidoskop des Grauens sammelte der Fotograf in den letzten zehn Jahren vor allem in Los Angeles, Hollywood, New York City und Las Vegas seine Einzelstücke.

Seine Bilder sollen provozieren, die befremdlichen Konstellationen fordern Erklärungen, doch Dressel ist kein epischer Geschichtenerzähler, seine Stories sind extrem kurz. Aber er reflektiert den Zustand des Landes: „Ich nenne die Form des Kapitalismus, den wir jetzt hier haben, ‚Post-Wettbewerbs-Kannibalismus‘, mit dem ein Großteil der Bevölkerung nicht klarkommt. Das erzeugt viel Ärger, der von skrupellosen Politikern, Predigern, Medienleuten und anderen Parasiten kanalisiert wird. Die Kräfte, die das System am Laufen halten, bieten keine nennenswerte Verbesserung für das Leben der einfachen Leute, deshalb nutzen sie kulturelle Probleme aus, um die Bevölkerung zu spalten und die Kontrolle zu behalten“, so Dressel. Sein hartes Resümee: „Das alles hat das Land in eine völlig dysfunktionale Shit Show voller hasserfüllter Gemeinheit und grotesker Dummheit verwandelt.“ Auch für die Zukunft erwartet er keine Besserung: „Ich habe das starke Gefühl, dass das Land an einem Wendepunkt angelangt ist, und ich habe Angst davor, wie diese Wende aussehen wird.“

Ob seine Fotografien nun prophetisch oder doch hoffentlich noch apotropäisch zu lesen sind, liegt im Blick der Betrachtenden. Ein genaues Hinsehen ist aber sinnvoll.
Ulrich Rüter

Michael Dressel: The End Is Near, Here+-

Cover_michael_dressel_TEINH_U1-1

176 Seiten, 120 Schwarzweißabbildungen
20 × 25 cm, Englisch/Deutsch
Mit einem Text von F. Scott Hess
Design: Jan Spading.
Hartmann Books

Webseite Michael Dressel
Instagram Michael Dressel

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Buchtipp: The End Is Near, Here