Buchtipp: Vast Land

14. April 2023

Symbole der Veränderung: Was Architektur über Machtanspruch und Selbstverständnis von Regierenden aussagt, hat der deutsche Fotograf Wolfgang Bellwinkel am Beispiel Myanmars anhand dreier Hauptstädte – Mandalay, Yangon, Naypyitaw – untersucht.
Welche Bedeutung hat die Hauptstadt eines Landes? Ist sie politisches und symbolisches Zentrum eines Staates mit Sitz der obersten Staats- und Regierungsgewalten? Ist sie darüber hinaus auch als Finanz-, Verkehrs- und Industriezentrum von Bedeutung? Hat sie auch einen hohen Stellenwert für die Kultur und Wissenschaft eines Landes? Befragt man die Geschichte Myanmars, wird es deutlich komplexer, gilt es doch hier nicht nur, die Kolonialgeschichte des Landes, sondern auch die aktuellen politischen Verwerfungen zu berücksichtigen. Seit 1859 hatte das Land immerhin drei Hauptstädte: Mandalay, Yangon und heute Naypyitaw.

Diesen drei Orten nähert sich der deutsche Fotograf Wolfgang Bellwinkel in seinem neuesten Bildband auf visuell beeindruckende Weise an. Die Vorgeschichte ist noch deutlich unübersichtlicher, so werden zwischen 849 und der Gegenwart sogar 22 Hauptstädte und 39 Regierungssitzwechsel gezählt. „Wirklich gut meinten es die letzten beiden Jahrhunderte mit Myanmar selten“, so Franz Xaver Augustin, Leiter des dortigen Goethe-Instituts von 2014 bis 2019, in seinem Vorwort. „Nach drei blutigen Kriegen die koloniale Unterwerfung, die eine kurze, vor allem für die europäischen Herren vorteilhafte Blüte hervorbrachte, die Schrecken des letzten Weltkriegs, die Bürgerkriegswirren gleich nach der Unabhängigkeit, die bald in fünf Jahrzehnte dumpfer Militärdiktatur übergingen. Auch die zehn Jahre der Öffnung nach 2011, die fragile Freiheit und der bescheiden wachsende Wohlstand waren durchzogen von vielfältigen ethnischen Konflikten, nicht zuletzt der Vertreibung der Rohingyas aus Rakhine; auch diese Phase endete im Februar 2021 abrupt im erneuten Putsch der Militärs und dem gewaltdurchtränkten Ausnahmezustand seither.“

Wie zeigt sich Geschichte nun in der Architektur? Trotz seines reduzierten, eher dokumentarischen Ansatzes präsentiert sich in dem Bildband sehr eindrücklich die große Unterschiedlichkeit von drei Städten, die alle einmal im Zentrum der politischen Macht standen und stehen. Alle drei Städte wurden ursprünglich auf dem Reißbrett geplant und sollten den Vorstellungen der jeweiligen Machthaber nach Repräsentanz, Ordnung und Sicherheit dienen. Mandalay, Hauptstadt von 1857 bis 1885, war auch ein Symbol des Aufbegehrens und Scheiterns der letzten birmanisch-buddhistischen Herrscher gegen den britischen Kolonialismus. Heute erscheint das permanent überbaute Stadtensemble konzeptlos und chaotisch. Yangon, Hauptstadt von 1885 bis 2005, galt einmal als „Perle des britischen Empires“, und so gelingt es dem Fotografen, dem morbiden Charme und Nachlass der kolonialen Gründung nachzuspüren, ohne jedoch den Verfall exotisch zu verklären. Die jüngste Gründung Naypyitaw, Hauptstadt seit 2005, erscheint in der Planung völlig überdehnt und dysfunktional. Bellwinkel zeigt hier vor allem die öde Leere zwischen den bestehenden Bauten, denn „Leere ist das alles bestimmende Motiv, Leere und Abstand als Ausdruck eines paranoiden Regimes“, so Augustin. Die bestimmende erbarmungslose Helligkeit in Bellwinkels Aufnahmen ist dabei beste subtile Kritik an dieser Stadtplanung. In allen drei Kapiteln, die durch kurze Statements ihrer Bewohner begleitet werden, gelingt es dem Bildband überzeugend, den jeweiligen Charakter einer Stadt und verschiedene Zeitgeschichten freizulegen.
Ulrich Rüter
Alle Bilder auf dieser Seite: © Wolfgang Bellwinkel

Wolfgang Bellwinkel: Vast Land+-

Bildschirmfoto 2023-11-15 um 16.03.00

Mit Texten von Franz Xaver Augustin und Heinz Schütte
144 Seiten, 56 Farbabbildungen
24 × 31,5 cm, Deutsch/Englisch
Hartmann Books

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Buchtipp: Vast Land