Buchtipp: My Grandfather Turned into a Tiger… and Other Illusions

Ihren Großvater hat die Fotografin nie kennengelernt, dafür aber wurde ihr eine abenteuerliche Legende über ihn erzählt. Er starb als Soldat im Vietnamkrieg, und kurz nach seinem Tod tauchte ein Tiger am Haus der Großmutter auf, den diese als Reinkarnation ihres Mannes erkannte. Er kehrte so oft zurück, bis sie ihn bat, wieder in den Dschungel zu gehen. Diese Geschichte ist ein Beispiel, wie Trauer und Verlust bewältigt werden können oder wie sich Familiengeschichte übermittelt. Viele der Motive des Bildbands sind symbolisch zu lesen, geben Einblicke in die Lebensgeschichte der Fotografin, gehen allerdings weit über den privaten Radius hinaus, und so wird die Monografie zu einer komplexen Auseinandersetzung mit dem Leben in der Diaspora, mit generationenübergreifenden Traumata und mit dem Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit in der amerikanischen Gesellschaft.

Pao Houa Her wurde 1982 in Laos geboren. Nach dem Ende des Vietnamkriegs gelang es ihren Eltern als Angehörige der Volksgruppe der Hmong, über verschiedene Stationen schließlich in die USA zu flüchten. Als Fotokünstlerin lebt Her heute in Blaine, Minnesota, und ist als Assistenzprofessorin an der University of Minnesota tätig. Anlässlich der Verleihung des Next Step Awards 2023–2024 durch Aperture und Baxter St at the Camera Club of New York – dort war das Projekt auch kürzlich ausgestellt – und in Partnerschaft mit der 7|G Foundation, hat die Künstlerin nun bei Aperture ihre erste große Monografie veröffentlichen können.

Der Bildband ist aufwendig gestaltet, bietet unterschiedliche Umschlagvarianten und vereint sechs Werkgruppen aus den Jahren 2012 bis 2022, darunter die titelgebende Serie, mit der sie die Geschichte ihrer Familie vor dem Verlassen von Laos wieder aufleben lässt. Andere Arbeiten befassen sich mit einem Skandal innerhalb der Hmong-Gemeinschaft, bei dem Hunderte Familien im Rahmen eines betrügerischen Investitionsplans um das Versprechen einer neuen Hmong-Heimat betrogen wurden. In einer anderen Serie werden prächtige Schwarzweißstillleben von Seidenblumen, die ihre Mutter in ihrem Haus sammelte, mit Abbildungen von digital manipulierten, übermäßig farbigen Blumenkulissen konfrontiert, wie sie in Hmong-Fotostudios beliebt oder auf Dating-Apps üblich sind. Die Pluralität der Gestaltung ist eine gelungene Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Fotografie, von der Dokumentation bis hin zur Erfindung, denn im Sinne Hers ist Fotografie „eine Wahrheit, wenn man will, dass sie eine Wahrheit ist“. Begleitende Texte geben erkenntnisreiche Einblicke in die Familiengeschichte und die Hmong-Identität sowie in die künstlerische Praxis der Fotografin.