Buchtipp: Plexus

30. Januar 2024

Den Geistern und Geheimnissen der Vergangenheit auf der Spur: Die deutsche Fotografin Elena Helfrecht erkundete das Anwesen ihrer Familie, um sich mit Erinnerungen und ererbtem Trauma auseinanderzusetzen.
Die schwarzweißen Bilder sind dunkel, unheimlich, aber offenbar mit Geschichte und Erinnerungen aufgeladen. Nach dem Tod der Großmutter dokumentiert die 1992 geborene Fotografin das seit über 200 Jahren im Familienbesitz befindliche Haus in Oberfranken nicht einfach, sondern beginnt, einzelne Objekte oder Raumsituationen zu einer Art allegorischem Schauspiel zu inszenieren. Alltägliche Gegenstände, Federbetten, der Blick in einen Wäscheschrank, hängende Stühle im Dachgebälk oder banale Zimmerwände wirken im Zusammenspiel zunehmend beunruhigend. Hausmodelle werden von Schlangen umschlungen, unter Bodendielen öffnen sich dunkle Abgründe, historische Familienbilder oder Baupläne verweisen auf die Familiengeschichte. Auffallend sind die vielen Tiere, die in der Reihe einen Platz gefunden haben: Pferde, Vögel, Schlangen, aber vor allem auch tote Exemplare oder deren Körperteile wie Füße oder Federn. Im weiteren Verlauf der Erzählung werden Motive von Eiern, Vögeln und fleischigen Wucherungen (eine Anspielung auf den Titel Plexus – ein Geflecht aus Nerven oder Gefäßen) mit Familienfotos verwoben, die auf Verbindungen und Zusammenhänge zwischen undurchschaubaren Symbolen, Menschen und Orten hindeuten.

Was ist in diesem Haus vorgefallen – welche traumatischen Erinnerungen spiegeln sich im Mobiliar und in den Erinnerungsstücken wider? Die seit 2018 entstandene Serie bleibt assoziativ. „Die Bilder durchdringen eine figurative Suche nach scheinbaren Wiederholungen in der Geschichte und spiegeln meine eigene Wiederholung der Verhaltensweisen meiner Mutter und Großmutter wider“, erläutert Helfrecht auf ihrer Homepage. „Durch die Konfrontation mit einer Vergangenheit, die sich über vier Generationen erstreckt, bietet ein erneuertes Identitätsgefühl den Boden für eine detaillierte Untersuchung von Postmemory, psychischer Gesundheit, Krieg und Geschichte.“ Mit Sensibilität und Spontaneität widmet sich die Fotografin der Magie des Hauses. In ihrer Serie wird die Architektur zu einer Bühne, die gefundenen Gegenstände zu zentralen Gestalten. Für die Autorin eine „fiktive Familienaufstellung, ein Theaterstück“. Langsam erschließt sich dann auch, warum das Buch mit einer Leporello-Bindung versehen ist: Man muss sich entscheiden, das Buch unangetastet zu lassen oder die Doppelseiten aufzutrennen, um auch die Bilder auf einigen Innenseiten zu betrachten. Ein symbolischer Akt – erst mit der Verletzung der Buchseiten kann die Erkenntnis wachsen. Auch um die begleitende Kurzgeschichte „The House Surgeon“ der kanadischen Schriftstellerin Camilla Grudova zu lesen, müssen einige Seiten aufgetrennt werden. Doch auch dieser Text liefert keine finale Erklärung, sondern greift das Thema des vererbten Traumas literarisch auf.

Ein spannender Bildband. Die bereits mehrfach ausgezeichnete Bilderserie wird in dem präzise gestalteten Buch umso mehr zu einem faszinierenden „Kopfkino“.
Ulrich Rüter
Alle Bilder auf dieser Seite: © Elena Helfrecht

Elena Helfrecht: Plexus+-

VOID+Plexus_THUMBNAIL+small

Mit einer Kurzgeschichte von Camilla Grudova
104 Seiten, zahlreiche Schwarzweißabb.
24 × 30 cm, Englisch

Erschienen bei Void
Webseite Elena Helfrecht 
Instagram Elena Helfrecht

1/10
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Buchtipp: Plexus