Buch des Monats: Debaltsevo, Where Are You?
Buch des Monats: Debaltsevo, Where Are You?
23. Februar 2023
Das Haus der Familie, Debalzewe 1970er Jahre
Erst spät wuchs bei der niederländischen Fotografin Karine Zenja Versluis der Wunsch, mehr über das Leben ihrer Großmutter zu erfahren: „Als Fotografin hatte ich viele Jahre lang die Geschichten anderer Menschen erzählt, Geschichten, in denen Kultur, Identität und Migration eine Rolle spielten. Das heißt, bis ich merkte, dass ich fast nichts über meinen eigenen Hintergrund wusste“, so die Fotografin. Ihre „Babuschka“ war keine gesprächige Frau, vor allem, wenn es um die Vergangenheit ging. Geboren 1921 in Debalzewe im Donbass in der Ostukraine, mit einem Niederländer verheiratet, den sie während ihrer Zeit als Zwangsarbeiterin im Zweiten Weltkrieg in Deutschland kennengelernt hatte und mit dem sie eine Familie gründete. So die dürren Fakten der bisher bekannten Familiengeschichte. Doch die Fotografin wollte mehr wissen: „Was bedeutete dieser ukrainische Teil von mir? Ich beschloss, nach Debalzewe zu fahren und Fotos vom Alltagsleben zu machen. Mein Ziel war es, mit diesen Bildern in einen Dialog mit meiner Großmutter zu treten. Ich wollte sie besser kennenlernen und hoffte, auf diese Weise auch mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren.“
Die Umsetzung erwies sich als weitaus schwieriger und aufwendiger als erwartet: Die Großmutter entschwindet langsam in die Demenz, der beginnende Krieg in der Ukraine verhindert 2014 zunächst eine Reise nach Debalzewe (Debaltsevo in den Erinnerungen der Großmutter). Doch über die Jahre lernt Versluis drei ukrainische Familien kennen, die kriegsbedingt 2015 und 2022 aus dieser Stadt geflohen sind. Ständig von den aktuellen Ereignissen überholt, ändern sich die Pläne der Fotografin immer wieder und werden so zum Symbol ihrer Suche nach der eigenen Identität. So fremd Versluis die Großmutter auch bleiben mag, so nah ist sie den gefundenen Familien und ihren dramatischen Erfahrungen. „Die Familien aus Debalzewe sind meinen ukrainischen Wurzeln am nächsten. Auch wenn sie nicht meine Verwandten sind und es nie sein werden, wird es wegen Debalzewe immer ein Band zwischen uns geben. Ihre Geschichten sind auch zu meinen Erinnerungen geworden“, so die Fotografin. Auch wenn sie es letztlich nicht schafft, in die Heimatstadt ihrer Großmutter zu gelangen, ist ihr ein spannendes Zeitzeugnis gelungen, das in seiner Mischung aus alten Familienbildern, aktuellen Porträts, Briefen und Texten die Bedeutung von Familie und Geschichte ergreifend vorstellt.
Karine Zenja Versluis: Debaltsevo, Where Are You?+-
148 Seiten, 16 Reproduktionen, 95 Farbabbildungen
16,5 × 24 cm
Design: Jeremy Jansen
Englisch (ukrainische und niederländische Übersetzungen online abrufbar)
The Eriskay Connection
Das Haus der Familie, Debalzewe 1970er Jahre
Die Großmutter (Mitte) mit ihren zwei Schwestern, Debalzewe, 1970er Jahre
Natalia, Kostjantyniwka 2017
Natalia in ihrem Pole-Dance-Studio, Kostjantyniwka 2017
Oksana in ihrer Küche, Saporischschja 2017
Evgeniy mit seinen Kindern Nastya und Katya, Charkiw 2018