Buch des Monats: Debaltsevo, Where Are You?

23. Februar 2023

Das Private ist politisch: Was vor zehn Jahren als biografische Recherche über die eigene Großmutter begann, entwickelte sich zu einem ungeahnten Langzeitprojekt und führte die niederländische Fotografin Karine Zenja Versluismitten in die aktuellen Verwerfungen des Ukrainekriegs.
Vom Cover des vorzüglich gestalteten Bildbands schaut uns eine junge Frau an. In etwas steifer Haltung, eingepasst in eine standardisierte Atelierinszenierung, die eher ins späte 19. Jahrhundert passt. Es ist die Reproduktion eines typischen Erinnerungsbildes aus dem Fotografenatelier, als die Fotografie noch kein Massenmedium war. Doch aus der Vergangenheit geht es in dem Bildband rasch in die unmittelbare Gegenwart. Zwar ist auf dem Cover die Urgroßmutter der Fotografin abgebildet, die sie nie kennengelernt hat, doch das Porträt stammt aus dem Nachlass der Großmutter, deren Lebensgeschichte der Ausgangspunkt für das Projekt ist. Schon an dieses erste Bild knüpfen sich Fragen: Was bleibt von einem Leben, welche Geschichten und Familiengeheimnisse transportieren sich über die zurückgelassenen Porträts und farbstichigen Schnappschüsse, die in Schachteln und Schubladen aufbewahrt werden? Wie erforscht man die eigene Familiengeschichte, das Leben der Großmutter?

Erst spät wuchs bei der niederländischen Fotografin Karine Zenja Versluis der Wunsch, mehr über das Leben ihrer Großmutter zu erfahren: „Als Fotografin hatte ich viele Jahre lang die Geschichten anderer Menschen erzählt, Geschichten, in denen Kultur, Identität und Migration eine Rolle spielten. Das heißt, bis ich merkte, dass ich fast nichts über meinen eigenen Hintergrund wusste“, so die Fotografin. Ihre „Babuschka“ war keine gesprächige Frau, vor allem, wenn es um die Vergangenheit ging. Geboren 1921 in Debalzewe im Donbass in der Ostukraine, mit einem Niederländer verheiratet, den sie während ihrer Zeit als Zwangsarbeiterin im Zweiten Weltkrieg in Deutschland kennengelernt hatte und mit dem sie eine Familie gründete. So die dürren Fakten der bisher bekannten Familiengeschichte. Doch die Fotografin wollte mehr wissen: „Was bedeutete dieser ukrainische Teil von mir? Ich beschloss, nach Debalzewe zu fahren und Fotos vom Alltagsleben zu machen. Mein Ziel war es, mit diesen Bildern in einen Dialog mit meiner Großmutter zu treten. Ich wollte sie besser kennenlernen und hoffte, auf diese Weise auch mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren.“

Die Umsetzung erwies sich als weitaus schwieriger und aufwendiger als erwartet: Die Großmutter entschwindet langsam in die Demenz, der beginnende Krieg in der Ukraine verhindert 2014 zunächst eine Reise nach Debalzewe (Debaltsevo in den Erinnerungen der Großmutter). Doch über die Jahre lernt Versluis drei ukrainische Familien kennen, die kriegsbedingt 2015 und 2022 aus dieser Stadt geflohen sind. Ständig von den aktuellen Ereignissen überholt, ändern sich die Pläne der Fotografin immer wieder und werden so zum Symbol ihrer Suche nach der eigenen Identität. So fremd Versluis die Großmutter auch bleiben mag, so nah ist sie den gefundenen Familien und ihren dramatischen Erfahrungen. „Die Familien aus Debalzewe sind meinen ukrainischen Wurzeln am nächsten. Auch wenn sie nicht meine Verwandten sind und es nie sein werden, wird es wegen Debalzewe immer ein Band zwischen uns geben. Ihre Geschichten sind auch zu meinen Erinnerungen geworden“, so die Fotografin. Auch wenn sie es letztlich nicht schafft, in die Heimatstadt ihrer Großmutter zu gelangen, ist ihr ein spannendes Zeitzeugnis gelungen, das in seiner Mischung aus alten Familienbildern, aktuellen Porträts, Briefen und Texten die Bedeutung von Familie und Geschichte ergreifend vorstellt.
Ulrich Rüter
Erste zwei Bilder: © Dick Versluis; Alle anderen Bilder auf dieser Seite: © Karine Zenja Versluis

Karine Zenja Versluis: Debaltsevo, Where Are You?+-

1_Cover

148 Seiten, 16 Reproduktionen, 95 Farbabbildungen
16,5 × 24 cm
Design: Jeremy Jansen
Englisch (ukrainische und niederländische Übersetzungen online abrufbar)
The Eriskay Connection

1/6
1/6

Buch des Monats: Debaltsevo, Where Are You?