Buchtipp: No Ponte

8. November 2023

Seit Jahrzehnten geplant, aber nie gebaut: eine fotografische Annäherung des Schweizer Fotografen Giuseppe Micciché an die Idee einer Brücke zwischen Sizilien und dem italienischem Festland.
Ein schöner Traum. Oder ein Albtraum von Größenwahn und Geldverschwendung? Das Bauwerk wäre die bisher längste und höchste Hängebrücke der Welt – allerdings erbaut auf erdbebengefährdetem, sandigem Grund. Die Überquerung der Straße von Messina, der Meerenge zwischen Kalabrien auf der italienischen Halbinsel und der Insel Sizilien war schon immer von Bedeutung, beträgt die Entfernung der beiden Seiten auf der 32 Kilometer langen Meeresstraße doch nur drei bis acht Kilometer. Unter anderem bereits von Benito Mussolini vor dem Zweiten Weltkrieg angekündigt, wurde das höchst umstrittene Brückenprojekt in den Amtszeiten Silvio Berlusconis wieder aktuell, und erste konkrete Pläne wurden gemacht. Wiederholt wurde dieses gigantomanische Prestigeprojekt diskutiert, geplant, aber schließlich wieder verworfen – nicht zuletzt durch die Weigerung der Europäischen Union im Jahr 2011, dem Projekt eine Förderung zukommen zu lassen. Jüngste Aufmerksamkeit erhielten die Pläne im Frühjahr 2023 durch die neue ultrarechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Und Matteo Salvini, Minister für nachhaltige Infrastruktur und Mobilität sowie stellvertretender Ministerpräsident im Kabinett Meloni hat bereits für das nächste Jahr den Baubeginn angekündigt.

Fernab aller obsessiven politischen Erklärungen hat der Schweizer Fotograf Giuseppe Micciché in seiner Langzeitserie die Orte in den Blick genommen, die von einer Realisierung der Brückenpläne betroffen wären. Er wurde 1971 in Winterthur geboren, lebt heute in Zürich, hat aber einen sehr persönlichen Zugang zum Thema, stammt ein Teil seiner Familie doch aus Sizilien: „Wenn wir in den Sommerferien in unser Dorf zurückkehrten, waren die arancini, die wir auf der Fähre vom italienischen Festland nach Sizilien aßen, wie bei so vielen anderen Familien, die ins Ausland ausgewandert waren, immer der erste Vorgeschmack auf die Heimat. Schon von Weitem sichtbar, grüßte uns am anderen Ufer die goldene Madonnina, die Schutzpatronin von Messina“, erinnert er sich. Viele Jahre später begann er, sich fotografisch für die Region zu interessieren: „Fasziniert von der Brücke, die auf keiner Karte verzeichnet ist und wie eine Fata Morgana über dem Meeresspiegel schwebt, begann ich 2005, diesen Küstenabschnitt zu fotografieren.“

Seine Fotografien erzählen von einer Region im Stillstand. Präsentiert werden seine Aufnahmen in dem großformatigen Buch in feinem Hochglanz – so stehen die desolaten Architekturszenen, Straßen- und Hafenansichten, unwirtlichen Strände, Zäune und Wände mit Protestgraffiti, die verloren wirkenden wenigen Menschen umso mehr im Kontrast zum Glanzpapier. Alles scheint zu warten – auf eine versprochene Veränderung, die vermutlich nie kommen wird. Für diese Sehnsucht hat der Fotograf die passenden melancholischen Motive gefunden. Für ihn ist No Ponte der Versuch, „etwas zu fotografieren, das es nicht gibt; es ist ein Essay darüber, wie die Abwesenheit von etwas uns genauso berühren kann, wie dessen Präsenz es tun würde. Es wird also kein Bild der Brücke in diese Serie aufgenommen werden. Die letzte Fotografie werde ich machen, wenn der Grundstein gelegt ist“, so Micciché in seinem Vorwort.
Ulrich Rüter
Alle Bilder auf dieser Seite: © 2023 Giuseppe Micciché

Giuseppe Micciché: No Ponte+-

NO PONTE_RZ_cover_622x282

156 Seiten, 70 Farbabb.,
27,5 × 29,5 cm, Italienisch/Englisch
Edition Patrick Frey (Nr. 343)
Buchdesign von Vieceli & Cremers

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Buchtipp: No Ponte