Eine neue Perspektive
Eine neue Perspektive
Peter Schäublin
15. Januar 2021
LFI: Ihre eindrucksvollen Aufnahmen zeigen nepalesische Straßenjungen, die durch das Projekt pet-recycling eine Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeit gefunden haben – wie stark hat dieses Projekt die Situation der Kinder verändert?
Peter Schäublin: Alle Straßenkinder auf der ganzen Welt sind traumatisiert durch das, was sie erlebt haben. Das Leben in den Gangs ist hart und brutalen Gesetzen unterworfen. Die Wiedereingliederung von ehemaligen Straßenjungen in die Gesellschaft ist schwierig, selbst wenn sie sich entscheiden, dem Leben auf der Straße, der Bande, den Drogen und der Gewalt den Rücken zu kehren. Tatsache ist aber, dass sie keine schulische Grundausbildung besitzen und die erdrückende Last ihrer traumatischen Kindheit irgendwie tragen müssen. Neben der Arbeit in der PET-Recycling-Anlage bietet Himalayan Life diesen jungen Menschen die Chance, sich in einem einjährigen Programm berufliche Grundfertigkeiten anzueignen. Im Unterricht lernen sie lesen, schreiben und rechnen. In der Werkstatt entdecken sie, was sie mit ihren Händen alles bewerkstelligen können. Die restlichen Tage der Woche arbeiten die Jugendlichen in den verschiedenen Abteilungen der Recycling-Anlage. So lernen sie, sich in ein festes soziales Umfeld einzugliedern. Der geregelte Tagesablauf hilft ihnen, das Leben auf der Straße mit Drogen und Bandenstruktur endgültig hinter sich zu lassen.
Was hat Sie bei Ihrer Arbeit über die nepalesischen Straßenkinder am meisten beeindruckt?
Zuerst hat mich der Überlebenswille der Kids beeindruckt. Sie leben in menschenunwürdigen Umständen, sie sind traumatisiert und haben dennoch einen starken Lebenswillen. Berührt haben mich auch die entspannten, fröhlichen Momente. Wenn die Kinder den Schutzraum von Himalayan Life aufsuchen, wissen sie, dass sie in Sicherheit sind und entspannen sich. Sie spielen, sie lachen und können für kurze Zeit wirklich Kind sein. Umso schmerzhafter ist es zuzusehen, dass sie es teilweise nicht schaffen, ihre Verhaltensmuster zu durchbrechen und die Straße aufzugeben.
Ein hochwertiges Kamera-Equipment auf der einen – auf Ihrer – Seite, existenzielle Armut auf der anderen Seite. Wie sind Sie mit dieser Diskrepanz umgegangen?
Diese Diskrepanz besteht immer, wenn jemand aus einer Industrienation in ein Land wie Nepal reist – egal ob mit teurer Kamera oder ohne. Wenn ich Menschen in schwierigen Situationen fotografiere, muss ich immer vorher mit mir ausmachen, ob ich es rechtfertigen kann, ihre Not zu zeigen. Der Grat zwischen Anteilnahme und Voyeurismus kann sehr schmal sein. Mir ist es wichtig, dass die Menschen vor meiner Kamera einverstanden sind, dass ich sie fotografiere, und ich achte auch darauf, dass ich von einer Person begleitet werde, der sie vertrauen. Wenn ich meine Aufnahmen mache, fokussiere ich mich voll und ganz darauf, die Menschen in ihrem Umfeld, aber auch in ihrer Würde zu zeigen. Ich war noch nie in der Situation, dass ich Menschen fotografiert habe, denen nicht geholfen wird. Das wäre eine größere Herausforderung. Doch wenn ich Menschen am Rand der Gesellschaft durch meine Bilder eine Stimme geben kann, ist das Herausforderung und Verpflichtung zugleich. Die große Chance und Stärke der Fotografie ist ihre universelle Sprache. Ein Bild kennt keine Sprachbarrieren. Und so hoffe ich, dass meine Fotos dazu beitragen können, bei den Betrachtenden Empathie und Achtsamkeit wachsen zu lassen und dass sie sich für Menschen in Not engagieren.
Peter Schäublin+-
Jahrgang 1965, ursprünglich gelernter Speditionskaufmann. Hat sich als Autodidakt in den Bereichen Grafik und Fotografie weitergebildet und in den 1990er-Jahren bei Sinar, dem damaligen Weltmarktführer für Fachkameras, die PR-Abteilung geleitet. Danach war er Produktionsleiter in einer Werbeagentur und gründete 1995 die eigene Firma für visuelle Kommunikation. Heute ist Schäublin als Grafiker, Fotograf, Filmer und Texter für Firmen und NGO’s tätig. Mehr