Nachruf: Sabine Weiss

6. Januar 2022

Mit 97 Jahren ist die Grande Dame der Photographie humaniste in Paris verstorben.
Immerhin acht Jahrzehnte umspannt das Werk der schweizerisch-französischen Fotografin. Sie arbeitete als Reportagefotografin, porträtierte Prominente, doch viel lieber widmete sie sich in ihren Aufnahmen dem Alltagsleben der Menschen. Sie suchte zufällige Begegnungen, interessierte sich für das Leben und das Schicksal ihrer Zeitgenossen, fotografierte das ansonsten Übersehene und kleine Momente voller Empathie – vor allem auf den Straßen ihrer französischen Wahlheimat Paris. Neben Robert Doisneau, Willy Ronis, Édouard Boubat oder Brassaï galt sie daher als die wichtigste – und letzte noch lebende – Vertreterin der Photographie humaniste, eines Genres, das sich den Lebensumständen und Alltagssituationen der Menschen widmet. Ganz nebenbei wurde sie so in den Jahrzehnten ihres Schaffens auch zu einer präzisen Chronistin und feinen Beobachterin des gesellschaftlichen Wandels.

Ihre erste Kamera besaß die 1924 als Sabine Weber in der Nähe von Genf geborene Schweizerin bereits mit zwölf Jahren. Nach ihrer Fotografenlehre in Genf zog sie 1946 nach Paris, hatte ihre erste Anstellung bei dem deutschen Modefotografen Willy Maywald, bevor sie ab 1950 als freie Fotografin für diverse französische und internationale Magazine arbeitete und in deren Auftrag durch die ganze Welt reiste. Lebensmittelpunkt sollte aber immer Paris und vor allem ihr Atelier bleiben, das sie 1950 zusammen mit ihrem Mann, dem amerikanischen Maler Hugh Weiss (1925–2007) am Boulevard Murat im Quartier Auteuil eröffnet hatte. In diesem geschützten Hinterhofdomizil, einem ehemaligen Werkstattgebäude, lebte sie bis zu ihrem Lebensende.

In ihren Schwarzweißaufnahmen, die sie bevorzugt mit einer Rolleiflex und einer Leica fotografierte, erzählt Weiss von den universellen menschlichen Erfahrungen, und insbesondere Kinder rückte sie immer wieder in den Mittelpunkt ihrer Aufnahmen. In Interviews betonte sie gern, dass sie sich als „Fotohandwerkerin“ verstand, denn „von Anfang an musste ich von der Fotografie leben, sie war nichts Künstlerisches“. Doch längst haben viele ihrer Aufnahmen den tagesaktuellen Kontext verlassen und wurden in zahlreichen Ausstellungen präsentiert und in Bildbänden publiziert. Insbesondere in den letzten Jahren hatte Weiss zahlreiche öffentliche Auftritte und wurde mit Auszeichnungen geehrt. Im Juli letzten Jahres war ihr Werk im Museon Arlaten in Arles zu sehen, und ab März 2022 ist eine Retrospektive in Venedig geplant. Seit 1995 war sie französische Staatsbürgerin; ihr fotografisches Archiv hat sie bereits vor einigen Jahren dem schweizerischen Musée de l’Élysee in Lausanne übergeben. Am 28. Dezember ist Sabine Weiss in ihrem Zuhause in Paris gestorben, wie ihre Familie jetzt mitteilte.

In der LFI 3/2018 wurde Sabine Weiss als Leica Klassikerin gewürdigt.
Ulrich Rüter
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