Nachruf: Piergiorgio Branzi

30. August 2022

Er gilt als einer der wichtigsten Fotografen der italienischen Nachkriegsmoderne. Nun ist der Leica-Fotograf am letzten Samstag mit 93 Jahren in Campagnano di Roma verstorben.
„Der Florentiner Piergiorgio Branzi ist im Jahr 1953 ganz plötzlich hervorgetreten und nimmt seitdem in der italienischen Fotografie einen der vordersten Plätze ein“, wusste das Magazin Leica Fotografie bereits in Heft 3/1960 zu berichten und stellte ihn als „Meister der Leica“ vor: „Branzis Thematik ist weitgespannt und vielfältig, aber immer handelt es sich um den Menschen, den er in seinen Bildern schildert. Seine Komposition ist streng, und er bemüht sich darum, das Wesentliche einer Episode im Bilde festzuhalten, wobei ihm die formale Komponente ebenso wichtig ist wie der Bildinhalt selbst.“ Diese für ihn typische Mischung aus formaler Perfektion und scheinbar natürlicher Eleganz, verbunden mit einem großen bildjournalistischen Interesse, sollte auch in der Folgezeit das Werk bestimmen. Auch wenn er damals nur für eine kurze Zeitspanne im Hauptberuf als Fotograf tätig war und vor allem als Journalist und erfolgreicher Fernsehredakteur arbeiten sollte. Erst in den 1990er-Jahren begann er wieder, intensiv zu fotografieren.

Wie für so viele Leica-Fotografen war auch für ihn die Initialzündung die Entdeckung des Werks von Henri Cartier-Bresson, das er 1952 in einer Ausstellung im Palazzo Strozzi in Florenz erlebte: „Noch heute schäme ich mich nicht, zu sagen, dass es ein echter Schock für mich war“, bekannte Branzi noch vor ein paar Jahren. Frappierend sollte für ihn die Erkenntnis sein, dass man die Welt durch den Sucher der Kamera lesen und dokumentieren, dabei aber gleichzeitig auch seine innere Welt und seine eigenen Überzeugungen mit einbringen konnte.

Bereits viele seiner frühen Aufnahmen wurden ausgestellt und publiziert, erhielten internationale Aufmerksamkeit, und rasch wurde Branzi als Teil der Fotografieavantgarde der Nachkriegszeit wahrgenommen, die sich in Italien vor allem unter dem Schlagwort des „Neorealismus“ etablierte. In enger Verbindung zum Film, der insbesondere von Regisseuren wie Roberto Rossellini, Vittorio De Sica oder Luchino Visconti bestimmt wurde, war auch die neorealistische Fotografie eine Reaktion auf die enormen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen in Italien.

Seine erste Ausstellungsbeteiligung hatte Branzi 1953 auf der Mostra della fotografia italiana in Florenz. 1955 reiste er mit einem Motorrad durch den Süden Italiens und auch durch Gebiete des Veneto. In den folgenden Jahren erweiterte er seine Touren in andere Länder: 1956 Spanien, 1957 Griechenland und 1960 Indien. Er wurde Mitglied der Fotografengruppen „La Bussola“ und „Misa“.

Ab 1960 war Branzi für die RAI tätig, und von 1962 bis 1966 arbeitete er einer der ersten westlichen Fernsehkorrespondenten in Moskau. Nach zwei Jahren in Paris kehrte er 1968 als Leiter der Nachrichtensendung nach Italien zurück. Erst Mitte der 90er-Jahre begann Branzi, sich wieder verstärkt der Fotografie zu widmen, und seit 2007 entstanden auch experimentelle digitale Arbeiten. In den letzten Jahren wurde sein Werk in zahlreichen Ausstellungen wiederentdeckt. So präsentierte unter anderem die Salzburger Leica Galerie im Frühjahr 2016 eine Ausstellung unter dem Titel Flaneur. Das LFI-Magazin widmete ihm eine Folge der Leica Klassiker in Heft 4/2016.

2015 ist mit Il giro dell’occhio eine umfassende Präsentation seines fotografischen Lebenswerks beim Verlag Contrasto erschienen. Sein Werk und das Archiv werden heute von der Fondazione Forma per la Fotografia in Mailand vertreten. Wenige Tage vor seinem 94. Geburtstag ist Piergiorgio Branzi nun am 27. August verstorben. 
Ulrich Rüter
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