Allein unter vielen und viele allein: Mit seinem Projekt „Plethora“ setzt Julio Bittencourt eindrucksvoll in Szene, wie Individuen in der Anonymität der Großstadt agieren – ob allein oder unter ihresgleichen.
Als Schauplätze wählte er Schwimmbäder, Kapselhotels, Waschsalons oder die U-Bahn in Tokio. Das verbindende Element ist stets der Überfluss in seiner Erscheinungsform als Masse oder als Anhäufung von Einsamkeit. Für das Plethora-Kapitel 43 hours richtete er sein Augenmerk auf den Individualverkehr und veröffentlichte dazu auch ein Video.
LFI: Warum haben Sie beschlossen, die Serie 43 hours in Filmform zu veröffentlichen?
Julio Bittencourt: Die Serie besteht aus etlichen Fotos, die ich in Städten gemacht habe. Bei der Auswertung spürte ich, dass die dargestellte Einsamkeit von Video-Elementen wie Klängen oder subtilen Bewegungen profitieren würde. Ich bin im Grunde genommen ein Fotograf, glaube aber auch, dass die Arbeit mit dem Fotografieren nicht zu Ende ist. Die Bedeutung eines einzelnen Bildes kann sich in einer anderen Anordnung oder dadurch komplett verändern, dass man vielleicht einmal zukünftige Technologien verwendet, von denen wir heute noch gar nichts wissen.
Wenn man sich die Bilder anschaut, scheint es, als ob Sie direkt vor den Autos stehen. Wie sind die Fotos entstanden?
Ein Fahrer steuerte den Wagen, in dem meine Kamera auf ein Stativ montiert war. Bei geschlossenen Fenstern fuhren wir stundenlang durch die Gegend und warteten, dass sich etwas tut. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden hatte, wie man am besten vorgeht. Als es dann funktionierte, war es nur noch eine Frage der Geduld.
Haben Sie den Leuten danach erzählt, dass sie fotografiert wurden, oder war es eine geheime Mission?
Dazu gab es keine Möglichkeit. Ich wünschte, ich hätte es gekonnt. Obwohl die Bilder sehr ruhig sind, fuhren die Autos ja trotzdem durch riesige Städte voller Menschen, Autos und Verkehr – es wäre so gut wie unmöglich gewesen, die Leute zu informieren.
Wie viele Bilder haben Sie für 43 hours gemacht, auf welche Weise haben Sie das Material ausgewählt?
Ich kann keine genaue Zahl angeben, aber es waren sicher Tausende. Vor allem, weil ich nachts mit geschlossenen Fenstern und minimalem Licht fotografierte und sowohl die Menschen als auch die Autos und der Verkehr in Bewegung waren, musste ich viele Bilder verwerfen. Die Auswahl für diese Serie war ähnlich wie bei den anderen: Es ging mir darum, einen eigenen Fluss zu finden, sich an eine bestimmte Farbpalette zu halten und von Bildern mit etwas Action zu stilleren Szenen zu wechseln.
Straßenverkehr hat diese faszinierende Wirkung auf Menschen: Er kann extrem stressen, aber auch kontemplativ wirken – je nachdem, wo man sich befindet. Ein Teil meiner Auswahl zielt deshalb darauf ab, den Betrachter von bewegten zu ruhigen Bildern zu leiten.
LFI 6.2018+-
Mehr Fotos aus dem Plethora-Projekt von Julio Bittencourt finden Sie in der LFI 6.2018. Mehr
Julio Bittencourt+-
Bittencourt liebt das Spiel mit Realitäten, sein Stil wirkt oft dokumentarisch, seine konzeptionellen Serien aber weisen weit über
das Einzelbild hinaus. 1980 in Brasilien geboren, wuchs er in São Paulo und New York auf. In Langzeitprojekten untersucht er das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt. Seine Arbeiten werden weltweit publiziert und in Ausstellungen präsentiert. Mehr