Der bedeutende Augenblick des Jewgeni Chaldej
Der bedeutende Augenblick des Jewgeni Chaldej
Ernst Volland
23. Mai 2017
Hier eine Fassung der berühmten Aufnahme, in der der assistierende Soldat zwei Armbanduhren trägt. Die Flagge des Siegers auf dem Reichstag, 2. Mai 1945
Sie haben Jewgeni Chaldej das erste Mal 1991 in Moskau getroffen, wie kam es zu dieser Begegnung?
Walter Momper, der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, lud mich ein, mit einer zehnköpfigen Delegation der SPD nach Moskau zu fahren und am 22. Juni 1991 einen Kranz an der Kremlmauer niederzulegen, um an den Überfall der Deutschen (Unternehmen Barbarossa) zu erinnern, der schließlich 20 Millionen Russen das Leben gekostet hatte. Zu dieser Reise gehörten kulturelle Begegnungen, unter anderem ein Treffen mit fünf Kriegsfotografen.
Einer von ihnen war Jewgeni Chaldej, dessen Namen und Werk ich nicht kannte. Als dieser einige seiner Fotos zeigte, die Flagge auf dem Reichstag 1945, Fotografien von der Potsdamer Konferenz und den Nürnberger Prozessen, war ich mehr als überrascht. Ich kam mit Chaldej ins Gespräch. Er lud mich in seine Wohnung am Rande von Moskau ein, doch wir mussten noch am selben Tag abreisen. Ein Jahr später kehrte ich auf eigene Faust nach Moskau zurück und besuchte Chaldej. So begann unsere Zusammenarbeit.
Wie ist aus dieser Zusammenarbeit eine Freundschaft erwachsen?
Wenn man einen Vater hatte, der beim Überfall auf die Sowjetunion als Soldat dabei war und der auch in der Ukraine, Chaldejs Heimat, kämpfte, ist es ein besonderes Glück, dass sich überhaupt eine Freundschaft entwickeln konnte. Auf Eröffnungen von Ausstellungen in Deutschland angesprochen, sagte er: „Ich kann vergeben, aber nicht vergessen. Mein Vater und zwei Schwestern sind bei lebendigem Leibe in eine Kohlengrube geworfen worden, mit 70.000 anderen. Das waren Deutsche.“ Ich bin jedoch sicher, nach dem Krieg hätten sich Chaldej und mein Vater sehr gut verstanden. Sie waren ähnliche Typen.
Wie würden Sie Chaldej charakterisieren, wie haben Sie ihn erlebt?
Großzügig, fast blind, am Stock gehend, sprachbegabt, humorvoll, direkt, trinkfest. In die Fotografie verliebt und in die Technik. Stolz auf seine Leica. Die musste immer dabei sein. Ausgestattet mit einem enormen Gedächtnis. Er erinnerte sich anhand der Fotos an jeden Ort, an jede Person, die abgebildet war.
Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle? Als Nachlassverwalter, Kurator, Freund?
Es hat sich alles gefügt. Insgesamt war die Zusammenarbeit nicht einfach, weil an einem gewissen Punkt seiner Bekanntheit plötzlich überall Begehrlichkeiten auftauchten, manchmal mit unlauteren Absichten. Schwierig auch, weil das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland kompliziert und mit Ressentiments beladen war und ist, was sich besonders beim Sponsoring der Ausstellungen und Bücher negativ auswirkte. Wir beabsichtigen, unsere einzigartige Chaldej-Sammlung an ein Museum zu verkaufen.
Wie viele Werke besitzen Sie von ihm?
Heinz Krimmer von der Agentur Voller Ernst und ich besitzen zusammen zirka 500 Originalfotos, geprintet von Chaldej. Die meisten davon sind signiert und datiert. Chaldej hat mir von Anfang an vertraut und ich konnte Ergebnisse wie die erste Einzelausstellung im Westen 1994 liefern oder, im selben Jahr, das erste Buch, Von Moskau nach Berlin.
Gibt es für Sie ein besonders wichtiges Bild aus seinem Werk?
Das erstaunliche am Werk von Chaldej ist seine durchgängige fotografische Qualität. Er war, auch dank seiner flexiblen Leica, in der Lage, im entscheidenden historischen Moment die entsprechende bildnerische Komposition zu finden. Nicht umsonst wird er auch der russische Robert Capa genannt. Die Sowjetfahne auf dem Reichstag, Berlin 1945, ist sein bekanntestes Motiv, und es war mir immer ein Anliegen, dass diese Fotografie, wie überhaupt sein ganzes Werk, in der Öffentlichkeit mit dem Namen Jewgeni Chaldej verbunden wird. Ich denke, das Reichstagsfoto ist sein wichtigstes, da es das Ende des Faschismus, das Ende des Zweiten Weltkrieges und das Ende Hitlers symbolisiert. Chaldejs Fotografien sagen: Nie wieder Krieg.
Interview: Ulrich Rüter
Alle Bilder: © Sammlung Ernst Volland/Heinz Krimmer/Jewgeni Chaldej
Einen authentischen Einblick in das Leben des Fotografen bietet der Film Jewgenij Chaldej – Fotograf der Weltgeschichte (Bernd Siegler, Medienwerkstatt Franken, 2003), zu sehen auf Vimeo
Ernst Volland+-
Ernst Volland, Jahrgang 1946, studierte Bildende Kunst in Hamburg und Berlin. Seine Karikaturen, Plakate, Fotomontagen und Zeichnungen wurden vielfach ausgestellt und in zahlreichen Katalogen veröffentlicht. Zusammen mit Heinz Krimmer gründete er 1987 die Fotoagentur Voller Ernst in Berlin.
Volland hat das Werk von Jewgeni Chaldej weltweit in Ausstellungen und Büchern veröffentlicht; u.a. Kriegstagebuch (Verlag Das neue Berlin, Berlin 2011); Der bedeutende Augenblick (Neuer Europa Verlag, Leipzig 2008, begleitend zur Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau); Heinz Krimmer, Ernst Volland: Von Moskau nach Berlin. Bilder des russischen Fotografen Jewgeni Chaldej (Parthas Verlag, Berlin 2002). Mehr
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Chaldej 1937 mit seiner ersten russischen Leica. Die FED, benannt nach dem Gründer des sowjetischen Geheim- dienstes Felix Edmundowitsch Dserschinski (1877–1926), wurde in einer Kommune für obdachlose Jugendliche in Charkow (Ukraine) gebaut. Nach dem Lizenzerwerb wurden hier ab 1932 Leica-Kopien hergestellt
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