In den Vororten von Paris

William Keo

17. Juli 2023

William Keo berichtet von seinen Erfahrungen als Fotograf in den Banlieues von Paris – und versucht zu ergründen, woher die Wut kommt.
Die fotografische Arbeit von William Keo konzentriert sich schon seit vielen Jahren auf das Leben in den französischen Vororten, mit all seinen Höhen und Tiefen. Im Interview spricht er mit uns über die aktuellen Aufstände in den Banlieues von Paris.

Wie erleben Sie die Situation in den Vorstädten von Paris?
William Keo:
Es tut mir wirklich leid, all die materiellen Schäden zu sehen; ich denke nicht, dass das die richtige Botschaft ist. Ein Supermarkt, in dem meine Eltern früher einkauften, ist niedergebrannt. Ich habe einige Nächte lang über die Unruhen in den Städten berichtet und dabei versucht, die offensichtlichen Bilder von ausgebrannten Autos zu vermeiden. Was hier passiert, ist ein historischer Prozess, und das bedeutet, dass man auch erklären muss, was vorher passiert ist.

Woher kommt diese Wut, und was muss sich ändern?
Die Ursachen sind vielfältig. Der Ansatz der Polizei hat sich seit 2003 geändert. Es gab eine Polizei, die eng mit dem Leben in den Vierteln verbunden und integriert war, aber sie wurde von Nicolas Sarkozy, dem Premierminister und späteren Präsidenten, im Jahr 2007 aufgelöst. 2005 kam es nach dem Tod zweier Jugendlicher, die vor der Polizei fliehen wollten, drei Wochen lang zu Unruhen, die dann allmählich wieder abklangen. Um weitere Ausbrüche zu verhindern, wurde die Polizei mit Gummigeschosswerfern ausgestattet, und in den Vororten wurden repressive Kontrollen verstärkt. Der Dialog zwischen den Wohnvierteln, die sich ausgegrenzt fühlen, und der Polizei, die mitunter von Jugendlichen angegriffen wird, brach ab, wodurch ein Teufelskreis entstand. Nach den Anschlägen vom 13. November 2015 hat die Polizei zudem massiv Bewerber rekrutiert, die nicht annähernd die erforderlichen Kriterien erfüllten und weniger gut ausgebildet waren. Die Polizeigewalt wurde mit der Gelbwesten-Bewegung 2018 sichtbar – die Pläne für eine neue bürgernahe Polizeiarbeit in den Vororten wurden damit begraben … und die Erlaubnis im Jahr 2017, bei Polizeikontrollen schießen zu dürfen, erhöhte die Zahl der Todesfälle noch weiter. Nahel ist einer der seltenen Fälle, in denen das gefilmt wurde – und das war der Auslöser für all diese Unruhen. Es ist von größter Bedeutung, den Dialog zwischen den staatlichen Akteuren und den Einwohnern zu erneuern. Ich habe noch nie eine Regierung erlebt, die so weit von den sozialen Realitäten entfernt war.

Welchen Beitrag können Bilder in solch einem Fall leisten?
Es ist eine wichtige Aufgabe, die Situation zu dokumentieren. Die Ikonografie der Vorstädte ist katastrophal und reduzierend, was Stereotype schafft und verstärkt. Ein dokumentarischer Ansatz, der die Situation auf strukturelle Weise veranschaulicht, kann dazu beitragen, die Komplexität der Probleme zu verstehen.

Was ist die größte Herausforderung, der Sie sich in der aktuellen Situation stellen?
Meine größte Herausforderung ist es, das einfache Bild zu vermeiden, nach alternativen Geschichten zu suchen, um sie zu bereichern, und mehr Schlüssel zum Verständnis zu bieten, anstatt nur brennende Autos und Leute in Kapuzenpullis zu zeigen – zumindest nicht ausschließlich so etwas, denn diese Bilder sind zu offensichtlich und nur das Ende einer Kette von Ereignissen.
Katrin Iwanczuk
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © William Keo
EQUIPMENT: Leica M11 und Leica M (Typ 240) mit Summilux-M 1:1.4/35 Asph

LFI 5.2023+-

Ein umfangreiches Portfolio über das Leben in den französischen Vororten finden Sie in LFI 5/2023. Mehr

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© William Keo_Magnum Photos
© William Keo/Magnum Photos

Der französisch-kambodschanische Fotograf wurde 1996 geboren. Zu Beginn seiner Karriere arbeitete er für NGOs, um sein Studium der Art Direction zu finanzieren. Seine Arbeit konzentriert sich auf Kriegs- und Krisengebiete wie Syrien oder die Ukraine; seit 2019 arbeitet er außerdem an seinem Langzeitprojekt Beautiful Paradox über seine Heimat. 2021 wurde er Nominee der Agentur Magnum Photos. Mehr

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