An Bord der Aquarius

Nicoló Lanfranchi

10. Mai 2019

SOS Méditerranée ist eine humanitäre Organisation, die in Kooperation mit Ärzte ohne Grenzen bereits mehreren tausend Schiffbrüchigen auf dem Mittelmeer das Leben retten konnte. Der Fotograf Nicoló Lanfranchi ging im Juli 2018 an Bord des Rettungsbootes Aquarius, um den Alltag der Seenotretter zu dokumentieren. Im Interview berichtet er, unter welchen Voraussetzungen er die Reise angetreten hat, wie der Alltag auf dem Schiff aussah und warum die Einsätze der Aquarius mittlerweile Geschichte sind.
LFI: Warum wollten Sie an Bord der Aquarius fotografieren?
Nicoló Lanfranchi: Es gibt in Italien zahlreiche unfassbare Kampagnen gegen die Rettung von Geflüchteten und bewusste Falschmeldungen, die für Angst im Land sorgen sollen. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was dort passiert und den tragischen Geschichten, die sich dort regelmäßig zutragen, ein Gesicht geben.

Was für Kampagnen und Falschmeldungen meinen Sie?
Der stellvertretende Ministerpräsident Italiens, Matteo Salvini, wird nicht müde, immer wieder Stimmung gegen Zuwanderung zu machen und künstlich Skandale zu erzeugen. Ich finde, es ist wichtig, dass die Menschen mitbekommen, was wirklich bei der Seenotrettung passiert, anstatt auf Propaganda zu hören, die von Regierungen in ganz Europa gestreut wird.

Wie lange waren Sie an Bord der Aquarius und wie sah der Alltag dort aus?
Insgesamt zwei Wochen im Sommer 2018. Von Marseille aus starteten wir in Richtung Libyen, wo wir uns in Küstennähe aufhielten. Dort, bei der Stadt Sabratha, brechen die Flüchtlingsboote normalerweise auf. Zunächst haben wir mehrere Tage lang gewartet und die Situation beobachtet. Im Laufe der Zeit konnten wir mehrere Menschen aus kleinen Holzbooten retten. Sie kamen aus Syrien, Ägypten, Somalia, Eritrea und weiteren Länden. Einige davon waren Kinder, die allein gereist sind. An Bord wurden sie mit Essen und Trinken versorgt, Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen betreuten sie medizinisch.

Was war Ihre Aufgabe als Fotograf?
Als Fotograf habe ich eine Art Tagebuch für den Spiegel und den Guardian produziert. Wie alle anderen war ich aber auch gefordert, wenn es darum ging, Menschenleben zu retten. Dazu mussten wir vorher Kurse in Erster Hilfe und lebenserhaltenden Maßnahmen belegt haben. Jeder, der mitwollte, war dazu verpflichtet. Dabei ging es sehr professionell und diszipliniert zu. Im Worst Case hieß es dann: Kamera aus und bei der Rettung dabei sein. Alle waren ein Teil der Mission. Darüber hinaus habe ich Interviews mit den Geretteten geführt und von Erlebnissen gehört, die mir wirklich sehr an die Nieren gingen. Jeder Gerettete hat eine eigene, sehr bedrückende Geschichte zu erzählen gehabt.

Das klingt nach einer riesigen Herausforderung…
Ja, das war es. Von den Regierungen kommt keine Hilfe. Das mussten wir an Bord mit über 150 Geretteten hautnah erleben: Niemand wollte unsere Ankunft genehmigen. Wir mussten mehrere Tage auf dem Meer ausharren, bis Malta sich letztlich erbarmt hat, uns aufzunehmen. Dort warteten jedoch Fahrzeuge der Polizei, die die Geretteten in Unterkünfte gebracht haben. Italien möchte um jeden Preis, dass die Geretteten zurückgeschickt werden. Das Land schließt den Hafen, wenn bekannt wird, dass dort Geflüchtete ankommen. Zudem warf die italienische Regierung Ende letzten Jahres der Besatzung der Aquarius vor, kontaminierte Kleidung entsorgt zu haben. Auch wenn es dafür keine Beweise gab, wurde die Seenotrettung deshalb beendet. Es ist schlichtweg kriminell, was dort passiert.

Woran, glauben Sie, werden Sie sich erinnern, wenn Sie an dieses Projekt zurückdenken?
Dieses Projekt hat meine Sichtweise auf das Meer komplett verändert. Ich betrachte die Küstenregionen nicht mehr als entspannte Orte, um Urlaub zu machen. Natürlich ist die Atmosphäre nach wie vor einmalig, die Farben des Wassers sind unglaublich, wir haben Delfine gesehen… Aber dort sterben Menschen! Und niemand hat das Recht, die Rettung dieser Menschen zu verhindern!

Das Schiff ist Geschichte, doch die Fotos von Nicoló Lanfranchi sorgen dafür, dass es nicht in Vergessenheit gerät. Auf der Seite von SOS Mediterranée kann man sich über die Projekte des Vereins informieren und spenden.
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Nicoló Lanfranchi
EQUIPMENT: Leica CL mit Elmarit-TL 1:2.8/18 Asph

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© Carlo Bevilacqua

Neben der Tätigkeit als Mode-, Werbe- und Porträtfotograf ist die erzählende Dokumentarfotografie eine der größten Leidenschaften des Italieners. U. a. recherchierte er bereits für Amnesty International und Greenpeace die Umweltkatastrophe am Rio Doce, Brasilien. Seine fotografischen und audiovisuellen Arbeiten erzählen Geschichten, die den Menschen in den Mittelpunkt rücken. Lanfranchi veröffentlichte in Publikationen wie Spiegel, The Guardian oder Internazionale und lehrte Storytelling am Mailänder Istituto Europeo di Design. Mehr

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