Healers: Sex Work as a Calling

Natalia Neuhaus

25. Juni 2024

Die Serie der Fotografin gibt den Betrachtenden einen intimen Einblick in das Leben von Sexarbeiterinnen und vermenschlicht das, was jahrhundertelang stigmatisiert und geächtet wurde.
LFI: Was war Ihre Idee für dieses Projekt?
Natalia Neuhaus: Für mich bedeutet die Entwicklung eines Menschen, dass wir uns ständig mit unserer Vergangenheit und unseren vorgefassten Meinungen auseinandersetzen müssen. Ein solches persönliches Missverständnis war das Stereotyp der Sexarbeiterin. Die Frauen, die ich kennengelernt und mit denen ich mich angefreundet habe und die zufällig freiwillig Sexarbeiterinnen sind, haben mir geholfen, diese Vorurteile zu überwinden. Sie alle teilen dieses tiefe Einfühlungsvermögen in die Welt und in andere. Sie sind Künstlerinnen, Aktivistinnen und Intellektuelle, und so ist dieses Projekt entstanden – als Hommage an sie und ihren Beruf und als Einladung an die Zuschauer, sich auf eine persönliche und transformative Reise der Dekonstruktion und Reflexion einzulassen.

Was war Ihr fotografischer Ansatz, was wollten Sie zeigen? 
Verletzlichkeit, Einfühlungsvermögen und Liebe sind Worte, die mir in den Sinn kommen. Um das zu erreichen, musste ich auch diese andere Person verstehen, die ich nie getroffen hatte, also versetzte ich mich in die Lage dieses imaginären Kunden – egal ob Mann, Frau, trans, bi oder nicht binär. Mir wurde klar, dass wir letztlich alle nach dieser zutiefst menschlichen Verbindung suchen, die über das Geschlecht hinausgeht, und das ist die Berührung. Wir leben in einer Welt, die beginnt, ihre selbst auferlegte Binarität zu hinterfragen. Während Frauen jahrhundertelang als Mütter und Hausfrauen angesehen wurden, von denen man erwartete, dass sie sich vorrangig um die Pflege und emotionale Stärke kümmern, wurde Männern oft beigebracht, dass Verletzlichkeit ein Zeichen von Schwäche sei. Die in diesem Projekt fotografierten Frauen sind Hüterinnen eines Raums, in dem es sicher ist, diese Unterdrückung zu erforschen, dagegen zu rebellieren und sich davon zu erholen.

Vor welchen fotografischen Herausforderungen standen Sie, und wie hat Ihre Kamera Sie dabei unterstützt?
Manchmal kann ein einziges Klicken einer Kamera einen schönen Moment zerstören. Es wird zum Eindringling, der den Zauber bricht. Die Leica Q2 ist eine leise und kompakte Kamera. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, meine Freunde für dieses Projekt nicht zu fotografieren; ich musste von vorn anfangen. Es sollten Fremde sein, die das Projekt verstanden und mir vertrauten, dass ich sie fotografiere. Während unserer gemeinsamen Zeit hatten wir nur wenige Stunden Zeit, um irgendeine Art von Verbindung herzustellen. Diese wenigen Stunden erwiesen sich als sehr intim, und ich meine nicht intim im sexuellen Sinne, sondern intim auf eine persönliche Weise. Ich wollte, dass sie sich wohlfühlen, wenn sie mir Fragen stellen. Ja, wir haben uns per E-Mail ausgetauscht, aber nichts ist mit einem Treffen im wirklichen Leben vergleichbar. Die Q2 war in diesen Momenten eine diskrete und respektvolle Verbündete.

Ihre Bilder bestechen durch Farbe und Komposition – welchen Einfluss haben diese fast malerischen Elemente auf die fotografische Erzählung?
Erstens: Vielen Dank. Zweitens ist dieser Einfluss von Farbe und Komposition auf meine fotografische Erzählung größtenteils ein unbewusster Prozess und wahrscheinlich das Ergebnis dieses extrem schüchternen und introspektiven Kindes, das ständig die Welt um sich herum beobachtet hat. Auch heute noch wohnt eine Hälfte von mir in meinem Gehirn, während die andere Hälfte in meinem Blick wohnt. Obwohl sie miteinander verbunden sind, agieren sie oft aus eigenem Antrieb. Es gab jedoch zwei sehr bewusste und absichtliche Entscheidungen für dieses Projekt: die Verwendung von Farbe anstelle von Schwarzweiß und vor allem die Tatsache, dass ich die Frauen zu Hause fotografiert habe. Auf diese Weise möchte ich dem Betrachter, der sich nun in die Lage der anderen versetzt, einen intimen Einblick in ihr Leben geben. Es ist leicht, jemanden zu entmenschlichen, den wir nie getroffen haben, und dieses Projekt soll diese Barriere durchbrechen.
Katja Hübner
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Natalia Neuhaus
EQUIPMENT: Leica Q2 mit Summilux 1:1.7 f/28 Asph

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© Natalia Neuhaus

Die Fotografin lebt mit ihrer Frau Rachel in Brooklyn, New York. Ihre Arbeiten wurden in Magazinen wie Dazed und Document Journal veröffentlicht; 2017 erhielt sie das Director’s Scholarship am ICP, im Jahr 2022 war sie eine von drei Frauen, die für die Teilnahme am VII Foundation-Leica Award-Programm ausgewählt wurden. Mehr

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