Der Kollaps in Venezuela

Michael Robinson Chávez

5. Januar 2024

Venezuela ist ein Land im Abwärtsstrudel. Im Jahr 2019 reiste der Fotograf in die entlegensten Winkel des Landes und machte eindrucksvolle Bilder im Rahmen einer Reportage für die Washington Post.
LFI: Was ist Ihre persönliche Verbindung zu Venezuela – inwiefern war dieses Thema für Sie von Bedeutung?
Michael Robinson Chávez:
Als ich 2019 zum ersten Mal nach Venezuela reiste, hatte ich keinen persönlichen Bezug, aber trotzdem hat mich das Land immer fasziniert. Es war auch nie einfach, ein Visum für Journalisten zu bekommen, bis es so weit war: Im Jahr 2019 öffneten sie sich plötzlich uns von der Washington Post gegenüber, und wir konnten uns Visa für mehrere Reisen sichern. Lateinamerika befand sich zu dieser Zeit inmitten einer wachsenden ideologischen Spaltung. Venezuela führte die Vorhut der „neuen“ Linken an und brach schließlich zusammen. Mich hat diese ganze Entwicklung sehr interessiert.

Hatten Sie im Voraus einen Plan, worüber Sie berichten wollten?
Ich habe während meines Aufenthalts in Venezuela mit dem hervorragenden Lateinamerika-Korrespondenten der Washington Post, Tony Faiola, zusammengearbeitet. Auf der ersten Reise haben wir hauptsächlich über die aktuellen Nachrichten berichtet; die Nachrichtenlage diktierte unsere Berichterstattung. Tony hatte ein phänomenales lokales Team zusammengestellt, darunter Mariana Zúñiga, Andreina Aponte und Rachelle Krygier. Es ist unerlässlich, professionelle Talente und Leute mit Kenntnissen vor Ort zu haben, die einem helfen, die Geschichten zu entschlüsseln.

Ich kehrte im Mai und September zurück und arbeitete ausgiebig mit Mariana an Geschichten, die ich recherchiert und den Redakteurinnen und Redakteuren der Washington Post vorgeschlagen hatte, darunter auch Chloe Coleman von der internationalen Redaktion, die das daraus resultierende Projekt leitete. Da wir über den Niedergang der Öl- und Tourismusindustrie berichteten, zog es uns in diese Regionen. Was wir vorfanden, war erschreckend: einen völligen Zusammenbruch der Infrastruktur. Es war eine ökologische und wirtschaftliche Katastrophe. Ich bin durch ganz Lateinamerika gereist und hatte noch nie einen Ort gesehen, der in diesem Ausmaß kollabiert war. Durch undichte Ölpipelines floss Rohöl in den Maracaibo-See, und Goldgräber verwüsteten die Regenwälder um den Wasserfall Salto Ángel.

Warum haben Sie bei diesem Projekt die Leica Q eingesetzt? 
Dies war die erste internationale Story, bei der ich die Leica Q ausgiebig verwendet habe. Und es hat so viel Spaß gemacht, mit ihr zu arbeiten. Ihre unaufdringliche Art war in vielen sensiblen Situationen, die ich zum Beispiel bei Beerdigungen und in Wohnungen vorfand, so entscheidend. Die Q hat den Ruf, eine großartige Reisekamera zu sein, und das aus gutem Grund. Aber ich finde sie auch für Dokumentarfilme und journalistische Arbeiten so wunderbar. Sie ist auf jeden Fall mein Arbeitspferd, wenn ich im Freien unterwegs bin.

Inwieweit kann Ihrer Meinung nach die Fotografie dazu beitragen, die internationale Aufmerksamkeit auf die Krise in Venezuela zu lenken?
Ich hoffe sehr, dass meine Fotos ein Publikum erreichen, um es über die Vorgänge in Venezuela aufzuklären. Wenn die Bilder irgendwie einen Wandel bewirken, dann ist das ein großer und seltener Erfolg. Ich möchte, dass die Fotos so viele Fragen aufwerfen, wie sie beantworten können. Sie sollen die Neugier wecken und das Bewusstsein schärfen.

Als ich 2019 mehrere Monate in Venezuela verbrachte, bemerkte ich, dass es dort äußerst talentierte einheimische Fotografinnen und Fotografen gibt, die schon seit Jahren beleuchten, was im Land geschieht. Andrea Hernández und Adriana Loureiro Fernández sind zwei, die mir sofort in den Sinn kommen. Ich hatte indes das Glück, für die Washington Post zu berichten, die von vielen einflussreichen Menschen gelesen wird. Ich kann nur hoffen, dass ich die Momente eingefangen habe, die sie wirklich zum Handeln bewegen können.

Haben Sie auf Ihren Reisen in Venezuela Momente erlebt, die Ihre Sicht auf das Land verändert haben?
Oh ja, so viele Momente. Und Orte. Die atemberaubende Schönheit des Landes hat mich wirklich beeindruckt. Die Unverwüstlichkeit der Menschen, die Nöte, die sie durchmachen, und die Tatsache, dass sie mich trotzdem mit einem Lächeln, Geschichten und einem offenen Haus empfangen haben, sind Eindrücke, die mich nie verlassen haben. Als ich zum ersten Mal dorthin ging, wusste ich wirklich nicht, was mich erwarten würde. Ich hatte viel recherchiert, aber nichts ersetzt es, vor Ort zu sein und mit den Menschen zu sprechen.
Danilo Rößger
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Michael Robinson Chávez
EQUIPMENT: Leica Q mit Summilux 1:1.7/28 Asph

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© Michael Robinson Chavez
© Michael Robinson Chávez

Der zweifache Pulitzer-Preisträger und Fotograf der Washington Post ließ sich von der Fotografie verführen, als er sich eine Kamera für eine Reise nach Peru auslieh. Als Fotograf arbeitete er bislang für Associated Press, den Boston Globe und die Los Angeles Times, viele seiner Bilder wurden weltweit ausgestellt. Robinson Chávez hat aus mehr als 75 Ländern berichtet, darunter über die russische Invasion in der Ukraine, den Zusammenbruch Venezuelas, die ägyptische Revolution, den Goldabbau in Peru und den Hisbollah–Israel-Krieg 2006. Er ist außerdem dreifacher Gewinner des Robert F. Kennedy Award for Photojournalism und wurde 2023 von P×3 Prix de la Photographie Paris und 2020 von Pictures of the Year International zum Fotografen des Jahres gewählt. Er ist iWitness Fellow und unterrichtet bei der Leica Akademie und dem Foundry Photojournalism Workshop. Mehr

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