Jen Osborne: Wenn ich an die Ukraine denke…

Jen Osborne

18. März 2022

„Wenn ich an die Ukraine denke, sehe ich dieses Foto vor mir, das meinen Mann Sascha und einen Kameraden zeigt.“
„Wenn ich an die Ukraine denke, sehe ich dieses Foto vor mir, das meinen Mann Sascha und einen Kameraden zeigt. Es war der russisch-ukrainische Krieg, der uns im Juli 2015 zusammenbrachte. Wir trafen uns im Basislager des Donbas-Bataillons der ukrainischen Armee. Wie viele andere junge Männer war Sascha Zivilist, der in den Kampf geschickt wurde, ohne eine Wahl zu haben. Als er im April 2016 entlassen wurde, kehrte ich in die Ukraine zurück. Sascha ersetzte meinen professionellen Guide Wladimir. Gemeinsam erkundeten wir den brutalen, faszinierenden Charme des Landes. Meine Begegnungen mit der Ukraine dauerten von 2015 bis 2017. Ich pendelte zwischen Kiew und Berlin und fotografierte Geschichten des Kriegs. Wenn ich eine Pause brauchte, konzentrierte ich mich auf die ukrainische Kultur und Kunst. Ich lernte Modedesigner und Performance-Künstler kennen – großartige Menschen, die nicht Kugeln, sondern ihre Talente als Waffen einsetzen.

Monate später heirateten Sascha und ich in Obolon, einem Arbeiterviertel in der Nähe des Zentrums von Kiew. Ein Jahr später zogen wir nach Kanada. Eigentlich wollten wir Europa nicht verlassen, aber als ausgebildeter Soldat war Saschas Leben in seiner Heimat in Gefahr. In Sicherheit verfolgte Sascha im Norden von Vancouver Island auf seinem iPad, wie Putin im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte. In der Gegend, in der wir sechs Jahre zuvor geheiratet hatten, überfuhr ein gepanzertes russisches Fahrzeug ein ziviles Auto. Ich sehe seinen Wunsch zurückzugehen, sein Volk zu unterstützen und zu kämpfen. Sascha mag noch am Leben sein, weil ich ihn aus der Ukraine geholt habe. Aber ich weiß, dass er hier nicht glücklich ist, in diesem Land mit Geld, dem es an Seele mangelt.

In Beziehungen geben wir uns dem anderen hin. Früher dachte ich, ich hätte mein aufregendes Leben in Europa geopfert, um meinen Mann nach Kanada zu holen. Aber jetzt verstehe ich, dass Sascha seine Identität für mich aufgegeben hat. Er ist mit seinem neuen Leben nicht im Reinen. Für ihn ist die Ukraine ein Konzept – ein Abbild seines Herzens und ein Symbol der Freiheit. Für die Souveränität seines Landes ist er bereit zu sterben. Vielleicht geht er bald wieder in den Kampf. Welche Wahl habe ich dann? Ich ginge mit ihm zurück, um zu fotografieren. Ich täte das, was ich am besten kann.“
Text und Bild: © Jen Osborne

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Jen Osborne ist eine kanadische Fotografin, deren Arbeiten international veröffentlicht wurden, u. a. im Stern, der Sunday Times, New York Times und im Magazin Maclean’s. Zahlreiche Ausstellungen, u.a. beim Festival Visa pour l’image in Perpignan, in der Aperture Gallery oder beim Festival Les Rencontres d’Arles. In ihren aktuellen Projekten beschäftigt sie sich mit Freiwilligenmilizen in den USA und der Rettung von Wildtieren nach den Buschbränden in Australien. Mehr

 

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