Buch des Monats: Bernina Transversal

Guido Baselgia

18. Januar 2022

Bilder der alpinen Bergwelt und mehr – dem Fotografen Guido Baselgia ist das Kunststück gelungen, die Bauherren eines Zweckgebäudes für etwas Unerwartetes zu gewinnen: eine Camera obscura inmitten der Alpen.
Die Schweizer Berge sind um eine eher versteckte Attraktion reicher: eine Camera obscura in über 2000 Metern Höhe. Eine glückliche Fügung, wurde doch beim Neubau eines Straßenunterhaltsstützpunktes nicht nur an die Funktion gedacht, sondern der Zweckbau um eine Idee des Fotografen Guido Baselgia erweitert. Hergestellt wird eine spannende Verbindung von Fotografie, Architektur und Landschaft, die verdeutlicht, dass es hier um Einsichten und nicht um Aussichten geht. Der neue Bildband des Fotografen geht über die Dokumentation des Neubaus hinaus; entstanden ist ein schwarzweißes Bildepos zur spektakulären und heute touristisch wie wirtschaftlich stark genutzten Hochgebirgslandschaft am Berninapass.

2019 von Bearth & Deplazes (dem Büro der Architekten Valentin Bearth, Andrea Deplazes und Daniel Ladner) fertiggestellt, dient der raue Betonbau zunächst einmal der Sicherstellung der Schneeräumung. Der Berninapass bildet die Hauptverkehrsader zwischen dem Engadin und dem Veltlin und wird ganzjährig offen gehalten, obwohl auf dem Pass etwa acht Monate im Jahr Schnee liegt. Der elegant in den Hang geschwungene Hauptbaukörper erinnert an eine Bogenstaumauer, „als gälte es bei dem immer rasanter fortschreitenden Auftauen des Permafrosts dem stets zunehmenden Bergdruck standzuhalten“, beschreibt Reto Hänny seinen ersten Eindruck im Buch.

Überragt wird dieser Bauteil, der den Fuhrpark und Arbeitsräume beherbergt, von einem Rundturm, dem nochmals ein schlankerer Turm vorgebaut ist. Der schmalere enthält ein Treppenhaus, über das der obere Teil des Hauptturms betreten werden kann. Dort erlebt der Besucher die überraschende Sensation: Der Raum über dem Split- und Salzsilo empfängt den Besucher in fast totaler Finsternis – gewöhnt sich das Auge an die Dunkelheit, so zeigt sich die überwältigende Wirkung einer riesigen Camera obscura. Der Betonkegel hat ein winziges Loch, und durch diese Öffnung entfaltet sich in wunderbarer Weise ein Bild: die Präsentation des Außenraums im Innenraum. Seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend, zeigen sich Berghänge und karge Felsformationen, Schneeverwehungen, das Umland des Stützpunktes, ein Stück des Lago-Bianco-Stausees, Wolken. Eine Camera obscura ist die Basis einer Fotokamera, sie verbindet das Medium der Fotografie mit der Architektur. Kongenial ist daher diese Vermittlung: „Ein Genuss zu sehen, wie die Gesetze der Optik sichtbar werden. Ich erfahre, was sich in meinen eigenen Augen permanent abspielt“, so einer der Buchautoren, Philip Ursprung: „Hier kann ich mir selber beim Sehen zuschauen.“

Der nun vorliegende, hervorragend gestaltete Bildband verbindet die Dokumentation des Baus mit den fotografischen Erkundungen von Guido Baselgia. Mit einer analogen Großbildkamera erkundete er den Berninapass im Spannungsfeld von Natur, Landschaft und ihrer Domestizierung. Das Buch zeigt neben den Fotografien auch Wiedergaben der Camera-obscura-Bilder aus dem Turm und dokumentiert in Text und Bild sowie mit Plänen die Architektur von Bearth & Deplazes.

Ganz nebenbei zeigt das Projekt auch den Wandel in den Alpen. Auch dort wird zukünftig weniger Schnee fallen; der Bedarf an alternativen Sehenswürdigkeiten, gerade wegen der kürzeren Winter, wird steigen. Eine Camera obscura scheint die passende willkommene touristische Abwechslung zu sein. So wird der Bau zu einem Ort der Wahrnehmung und Reflexion. Die präzisen Aufnahmen des Bildbandes sind eine gelungene Einladung. (Ulrich Rüter)

Guido Baselgia/Bearth & Deplazes: Bernina Transversal
(Hg. Verein Erlebnisraum Bernina Glaciers)
Mit Texten von Reto Hänny und Philip Ursprung,
132 Seiten, 76 Duplex-Fotografien und 7 Pläne, 27,5 × 31,0 cm, Deutsch, Italienisch und Englisch. Park Books

Alle Bilder auf dieser Seite: © Guido Baselgia, Malans
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Guido Baselgia+-

Guido Baselgia, 1953 geboren und im Schweizer Engadin aufgewachsen, wurde von der Alpenlandschaft geprägt und immer wieder inspiriert. In den 1980er-Jahren vor allem der Reportagefotografie auf der ganzen Welt verpflichtet, vollzog er in den 1990er-Jahren eine Wende hin zur Auseinandersetzung mit der Landschaft seiner Herkunft. Zahlreiche Publikationen, Ausstellungen und Auszeichnungen, u. a. 2006 mit dem Innerschweizer Kulturpreis und 2020 mit dem Kulturpreis des Kantons Graubünden. Mehr

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