Buch des Monats: Fotografie als analytische Praxis
Buch des Monats: Fotografie als analytische Praxis
14. Februar 2022
Moriz Nähr, Ludwig Wittgenstein. Porträt zur Verleihung des Trinity College Stipendiums 1929, 1928/29 © Klimt-Foundation, Wien, Foto: Klimt-Foundation, Wien
Ganz selbstverständlich wuchs Wittgenstein in seinem großbürgerlichen Umfeld mit der Fotografie auf, viele Fotografen gehörten zum Bekanntenkreis der Familie und auch er selbst betätigte sich als Fotograf, Arrangeur und Sammler von Fotografien, nutzte Selbstporträts und Fotoautomaten für die eigene Selbstdarstellung. Nicht zuletzt die Ambivalenz zwischen Repräsentation und Verfälschung der Wirklichkeit interessierte ihn. Er selbst erkundete die Kompositfotografie, sammelte Fotografien und stellte sie in Alben zusammen. Als Bilddenker hat er seinerzeit einem Freund brieflich sogar einen „Laokoon für Photographen“ angekündigt, ein Buch, das allerdings nie erschienen ist, aber dessen Idee und möglichem Inhalt im Bildband ausführlich nachgegangen wird. Und selbst ganz am Ende seines Lebens entstand eine Fotografie: die Aufnahme auf seinem Totenbett, angefertigt am 29. April 1951 von seinem Lebensgefährten Ben Richards, dürfte auf seinen eigenen Wunsch zurückgehen.
Eine Ausstellung allein über Wittgenstein, so wie der Titel des Projektes suggeriert, wäre aber vermutlich doch zu theoretisch und spröde ausgefallen, daher begleiten 46 künstlerische Positionen die Ausstellung und haben ihren Auftritt im begleitenden Katalog. Darunter sind Anna und Bernhard Blume, Christian Boltanski, Hanne Darboven, Nan Goldin, Gerhard Richter, Martha Rosler, Thomas Ruff, Cindy Sherman, Hiroshi Sugimoto und Andy Warhol. Eingeteilt in die Kapitel wie „Kompositfotografie und Unschärfe“, „(Selbst-)Bildnisse“, „Das Album“, „Porträts“ und „Fotografierte Räume“ ergibt sich ein spannender Parcours in der Ausstellung aber eben auch in dem vielseitigen Katalogbuch. Ein bunter Reigen von Assoziationen und Gedankenspielen wird angestoßen und so entsteht ein spannender und komplexer Dialog zwischen dem Denken des Philosophen und den Werken der Künstler, die sich eben nicht konkret auf Wittgensteins Überlegungen beziehen, sich aber umso mehr mit deren Relevanz beschäftigen oder sie hinterfragen. Wie weit darf man Fotografien trauen, welche Wirklichkeit stellen sie dar oder was bedeutet Unschärfe? Auch ohne konkrete Antworten, ist ein spannender Resonanzraum entstanden, an dessen spielerischem Charakter sicher auch der Philosoph seine Freude gehabt hätte. (Ulrich Rüter)
Ludwig Wittgenstein. Fotografie als analytische Praxis (Ausst. Kat. Leopold Museum, Wien)
Hg. v. Verena Gamper und Hans-Peter Wipplinger, mit Texten von Verena Gamper, Elisabeth Edith Kamenicek, Michael Nedo, Ulrich Richtmeyer, Gregor Schmoll, Joseph Wang-Kathrein.
304 Seiten, ca. 580 Abb., 25,3 x 28,0 cm, Deutsch, Englisch
Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König
Moriz Nähr, Ludwig Wittgenstein. Porträt zur Verleihung des Trinity College Stipendiums 1929, 1928/29 © Klimt-Foundation, Wien, Foto: Klimt-Foundation, Wien
Automatenporträt von Ludwig Wittgenstein, um 1930 © Sammlung Mila Palm, Wien, Foto: Leopold Museum, Wien/Manfred Thumberger
Ludwig Wittgenstein, „Belonging to L.W.“, Fotografien von Ludwig Wittgenstein, fotografiert mit einer Pocket Camera, von Ben Richards auf die Vorderseite eines linierten Blatts geklebt, 1936 © Wittgenstein Archive Cambridge, Foto: Leopold Museum, Wien/Manfred Thumberger
Thomas Ruff, anderes Porträt 109A/32, 1994/95 © Courtesy Thomas Ruff, Foto: Thomas Ruff © Bildrecht, Wien 2021
Ludwig Wittgenstein, Gilbert Pattisson mit Pfeife vor „CATROS – GERAND“, Frankreich, 1936 © Trinity College, Cambridge, Witt.402.photo3, Foto: Master and Fellows of Trinity College Cambridge © Master and Fellows of Trinity College, Cambridge
Christian Boltanski, 1939–1964 Album de photos de la famille D., 1971 (Detail) © MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST Archiv Jean-Christophe Ammann, Foto: Museum MMK für Moderne Kunst/Axel Schneider, Frankfurt am Main © Bildrecht Wien, 2021
Günther Förg, Wittgenstein II, 1998 © Privatsammlung, Foto: Günther Förg (aus: Günther Förg – Fenster, die fehlen. Wien 1998, Ausst.-Kat. BAWAG Foundation Wien, 04.12.1998–23.01.1999) © Bildrecht, Wien 2021
Hiroshi Sugimoto, Wittgenstein House, 2001 © Hiroshi Sugimoto / Courtesy of Gallery Koyanagi, Foto: Hiroshi Sugimoto/Courtesy of Gallery Koyanagi © Hiroshi Sugimoto
Ausstellungsansicht, Ludwig Wittgenstein © Leopold Museum, Wien, Foto: Lisa Rastl
Ludwig Wittgenstein, Gilbert Pattisson, Fotoalbum von Ludwig Wittgenstein: Mit Gilbert Pattison in Skjolden (Norwegen), Juli 1931 © Wittgenstein Archive Cambridge, Foto: Leopold Museum, Wien/Manfred Thumberger