Buch des Monats: Fotografie als analytische Praxis

14. Februar 2022

Wer es bis zum 6. März nicht mehr in das Wiener Leopold Museum schaffen sollte, hat mit dem begleitenden Katalog ein fundiertes Kompendium zur Hand, das nicht nur zur Entdeckung der fotografischen Leidenschaften des Philosophen Ludwig Wittgenstein einlädt, sondern auch zahlreiche Querverbindungen zur zeitgenössischen Kunst und Fotografie zieht.
Ob er auch mit einer Leica fotografiert hat? Im Buch kann man den Philosophen allerdings nur mit seiner V.P. Twin Bakelite Pocket Camera entdecken, doch wie vielfältig er sich mit dem Medium der Fotografie beschäftigte, wird nun in Buch und Ausstellung spannend hinterfragt. Ludwig Wittgenstein (1889–1951) gilt als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt des Wittgenstein-Projektes des Leopold Museums, kuratiert von Verena Gamper und Gregor Schmoll in langjähriger Recherchearbeit, stehen nicht die philosophischen Schriften – allen voran sein frühes Hauptwerk Tractatus logico philosophicus (1921) – oder deren Strahlkraft auf die bildende Kunst, sondern Wittgensteins Interesse an der Fotografie. Ausgehend von jenen Aufnahmen, die sich in Wittgensteins Besitz befanden, von ihm beauftragt oder sogar selbst angefertigt wurden, und seinen wiederholten Bemerkungen zur Fotografie, die er in seinen philosophischen und privaten Schriften festhielt, wird Wittgensteins Verständnis und Verwendung von Fotografie als analytische Praxis ausgiebig beleuchtet.

Ganz selbstverständlich wuchs Wittgenstein in seinem großbürgerlichen Umfeld mit der Fotografie auf, viele Fotografen gehörten zum Bekanntenkreis der Familie und auch er selbst betätigte sich als Fotograf, Arrangeur und Sammler von Fotografien, nutzte Selbstporträts und Fotoautomaten für die eigene Selbstdarstellung. Nicht zuletzt die Ambivalenz zwischen Repräsentation und Verfälschung der Wirklichkeit interessierte ihn. Er selbst erkundete die Kompositfotografie, sammelte Fotografien und stellte sie in Alben zusammen. Als Bilddenker hat er seinerzeit einem Freund brieflich sogar einen „Laokoon für Photographen“ angekündigt, ein Buch, das allerdings nie erschienen ist, aber dessen Idee und möglichem Inhalt im Bildband ausführlich nachgegangen wird. Und selbst ganz am Ende seines Lebens entstand eine Fotografie: die Aufnahme auf seinem Totenbett, angefertigt am 29. April 1951 von seinem Lebensgefährten Ben Richards, dürfte auf seinen eigenen Wunsch zurückgehen.

Eine Ausstellung allein über Wittgenstein, so wie der Titel des Projektes suggeriert, wäre aber vermutlich doch zu theoretisch und spröde ausgefallen, daher begleiten 46 künstlerische Positionen die Ausstellung und haben ihren Auftritt im begleitenden Katalog. Darunter sind Anna und Bernhard Blume, Christian Boltanski, Hanne Darboven, Nan Goldin, Gerhard Richter, Martha Rosler, Thomas Ruff, Cindy Sherman, Hiroshi Sugimoto und Andy Warhol. Eingeteilt in die Kapitel wie „Kompositfotografie und Unschärfe“, „(Selbst-)Bildnisse“, „Das Album“, „Porträts“ und „Fotografierte Räume“ ergibt sich ein spannender Parcours in der Ausstellung aber eben auch in dem vielseitigen Katalogbuch. Ein bunter Reigen von Assoziationen und Gedankenspielen wird angestoßen und so entsteht ein spannender und komplexer Dialog zwischen dem Denken des Philosophen und den Werken der Künstler, die sich eben nicht konkret auf Wittgensteins Überlegungen beziehen, sich aber umso mehr mit deren Relevanz beschäftigen oder sie hinterfragen. Wie weit darf man Fotografien trauen, welche Wirklichkeit stellen sie dar oder was bedeutet Unschärfe? Auch ohne konkrete Antworten, ist ein spannender Resonanzraum entstanden, an dessen spielerischem Charakter sicher auch der Philosoph seine Freude gehabt hätte. (Ulrich Rüter)

Ludwig Wittgenstein. Fotografie als analytische Praxis (Ausst. Kat. Leopold Museum, Wien)
Hg. v. Verena Gamper und Hans-Peter Wipplinger, mit Texten von Verena Gamper, Elisabeth Edith Kamenicek, Michael Nedo, Ulrich Richtmeyer, Gregor Schmoll, Joseph Wang-Kathrein.
304 Seiten, ca. 580 Abb., 25,3 x 28,0 cm, Deutsch, Englisch
Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König
1/10
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Buch des Monats: Fotografie als analytische Praxis