Ricordi

Emanuele Scorcelletti

29. November 2024

Der in Paris lebende Fotograf ist mit seiner Leica M6 in der Gegend der Marken auf Spurensuche gegangen. Aus dieser italienischen Region stammt nicht nur seine Familie, sondern sie hat ihn in den letzten Jahren immer wieder zu neuen Bildideen für sein Langzeitprojekt angeregt.
Mit seinem Bildband Elegia Fantastica hat der international arbeitende Fotograf den italienischen Marken eine visuelle Hommage geschenkt. In zwei umfangreichen Serien, den Ricordi und den Visioni, also den „Erinnerungen“ (Memories) und „Visionen“ (Visions), nähert er sich der Landschaft, den Menschen, aber vor allem seinen eigenen Erinnerungen an und Empfindungen zu dieser für ihn einzigartigen Region. Durch seine familiären Wurzeln hat er eine tiefe Bindung an die Marken, die er seit 2014 in einer Langzeitarbeit zum Ausdruck bringt. Die Verwüstungen des Erdbebens vom 24. August 2016 haben ihn noch einmal neu über seine visuelle Herangehensweise nachdenken lassen. Die daraus entstandene Werkgruppe der Visioni präsentieren wir in der aktuellen LFI-Ausgabe. Diesen LFI-Blog-Beitrag widmen wir der vorausgegangenen Werkgruppe der Ricordi, die fotohistorisch einen spannenden Blick auf die Arbeit des Fotografen wirft und seine fotografischen Vorbilder erkennen lässt. „Die beiden Serien sind die Fortsetzung der jeweils anderen, oder besser gesagt, das Yin und Yang, die Idee der oben erwähnten existenziellen Reise auf der Suche nach der eigenen Identität, bei der der Mensch jedes Mal gezwungen ist, sich mit der Realität und der Magie auseinanderzusetzen“, sagt Scorcelletti.

Mit seiner Serie der Ricordi bezieht sich der Fotograf ganz bewusst auf die Tradition der europäischen humanistischen Fotografie, die in ihrer Poetik und Thematik den Menschen und seinen Alltag in den Mittelpunkt stellen. Als wichtige Vorbilder nennt der Fotograf im Interview Mario Giacomelli, Henri Cartier-Bresson und Jacques-Henri Lartigue: „Jeder Künstler tritt in die Fußstapfen der großen Meister, die ihm am ähnlichsten sind, um seine eigene Sprache zu schaffen. Ich habe meine eigene Bildsprache entwickelt, indem ich die drei genannten Künstler studiert habe, und ich versuche jedes Mal, sie mit meinem eigenen Blick zu interpretieren“, so Scorcelletti.

Mario Giacomelli hat er persönlich in Senigallia kennengelernt – das ist nicht nur der Geburtsort des bewunderten Fotografen, sondern auch der von Scorcellettis Vater. „Giacomellis Fotografien sind reich an der Poesie dieser Region und vermitteln gleichzeitig jene Spontaneität des Alltags, die den italienischen Neorealismus auszeichnet.“ Ebenso wichtig ist für ihn das Werk von Henri Cartier-Bresson: „Ich habe immer seine Fähigkeit bewundert, den Moment elegant einzufangen und gleichzeitig seine tiefe Bedeutung zu enthüllen. Um es mit seinen Worten auszudrücken, bemühe ich mich bei jeder Aufnahme, ‚den Geist, die Augen und das Herz‘ in dieselbe Blickrichtung zu bringen und versuche, wie er, die poetische Menschlichkeit des Seins hervorzuheben“, erläutert der Fotograf und führt sein drittes großes Vorbild an: „Alle meine Bilder sind eine Hommage an Jacques-Henri Lartigue. Er hat uns die Freude am Dasein gelehrt, die Fähigkeit, das Leben immer mit den begeisterten Augen eines Kindes zu betrachten. Dank Lartigue bin ich immer in der Lage zu staunen und in meinen Bildern jene Leichtigkeit zu bewahren, die zum Werkzeug wird, um mit der Komplexität des Lebens umzugehen.“ Mit dem Blick auf diese fotografischen Traditionen erklärt sich auch die zeitlose Eleganz, von der die Aufnahmen Scorcellettis ausgezeichnet sind: „Meine Absicht ist es nicht, zu dokumentieren, sondern das Universelle der Orte zu vermitteln, in denen wir uns wiedererkennen.“
Ulrich Rüter
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Emanuele Scorcelletti
EQUIPMENT: Leica M6, Summilux-M 1:1.4/50 Asph

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Das Portfolio Elegia Fantastica präsentiert die LFI-Ausgabe 8.2024. Mehr

Elegia Fantastica: Between Memory and Visions+-

book

Der Bildband Elegia Fantastica ist 2022 bei Hemeria erschienen. 

Emanuele Scorcelletti+-

Die Eltern des Fotografen stammen aus den italienischen Marken und dem Friaul. Geboren wurde er 1964 in Luxemburg. Er studierte am Institut national de radioélectricité et cinématographie (INRACI) in Brüssel. Zwischen 1989 und 2009 war er bei der Agentur Gamma in Paris und arbeitet bis heute als freier Fotograf für Magazine, Werbung und Mode. Sein Bild, das Sharon Stone auf dem roten Teppich vor dem Palais des Festivals in Cannes zeigt, wurde 2003 mit dem World Press Photo Award in der Kategorie Kunst und Kultur ausgezeichnet. Neben den Porträts und Aufnahmen im Kontext von Kino, Mode und Luxusmarken hat er immer auch an sozialen Projekten gearbeitet. Scorcellettis Werk wurde mehrfach ausgezeichnet und vielfach ausgestellt.
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