Buch des Monats: Erde, Feuer, Wind, Wasser

Damian Michał Heinisch

23. November 2021

Unser Buch des Monats ist diesmal gleich ein vierbändiges Werk in aufwendiger Aufmachung: In einem Schuber stecken vier verschiedenfarbige Einzelbände.
Unser Buch des Monats ist diesmal gleich ein vierbändiges Werk in aufwendiger Aufmachung: In einem Schuber stecken vier verschiedenfarbige Einzelbände. Die Einbände sind äußerlich typografisch schlicht gestaltet; das beziehungsreiche Werk des Fotografen entfaltet sich erst beim Aufblättern der großformatigen Bände. Und wer nun gefällige Landschaftsbilder zu den Elementen Erde, Feuer, Wind und Wasser erwartet, wird schnell merken, dass Heinischs Bilderwelten anders aussehen. Denn hinter den Titeln verbirgt sich das Ergebnis eines dokumentarischen Langzeitprojekts, in dessen Mittelpunkt sich die Familiengeschichte des Fotografen widerspiegelt.

Ein komplexes Projekt, denn in jedem der Bücher – symbolisch eingebettet in den Kontext der vier Jahreszeiten und den Zyklus des Lebens betonend – richtet der Fotograf seinen Blick auf Familienmitglieder aus unterschiedlichen Generationen der letzten 75 Jahre. Bei Erde ist es der Großvater des Fotografen, der am Ende des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter in einem sowjetischen Lager in der Ukraine starb. Er führte sein Tagebuch vom 16. Februar bis zum 10. September 1945. Jede der mit winziger Schrift gefüllten Doppelseiten des Tagebuchs ist in Originalgröße reproduziert, der Text noch einmal jeweils auf der linken Seite wiedergegeben. Das Lesen wird zu einem bedrückenden Eintauchen in die dramatische Lebenssituation des Autors – das Tagebuch endet mit dem Tod von Walter Heinisch am 5. Oktober 1945. Sein Enkel, Damian Michał Heinisch, hat nun seine eigene Auseinandersetzung mit dem Schicksal seines Großvaters geschickt eingefügt: In seinem Bildband lassen sich die Seiten mit der Tagebuchreproduktion aufklappen, und hier finden sich Motive – im verfremdenden Autochromverfahren fotografiert – die 2014 auf der Reise des Fotografen durch die Ukraine auf den Spuren seines Großvaters entstanden sind. Vergangenheit und Gegenwart verschränken sich. Dass kurz nach der Reise des Fotografen der aktuelle Ukraine-Krieg begann, ist eine weitere Verbindung zur Zeitgeschichte.

Die nötigen Informationen über die familiären und historischen Zusammenhänge liefern die begleitenden Texte: Wie in jedem der vier Bände gibt es einen Essay der Medien- und Kunstwissenschaftlerin Sophie-Charlotte Opitz sowie ein Interview mit dem Fotografen. So erschließt sich ein spannender Prozess über die Funktionsweisen und Dynamiken einer Erinnerungskultur, die über nationale Grenzen und Generationen hinaus wirkt.

In den drei anderen Bänden werden weitere Kapitel der Familiengeschichte des Fotografen aufgeschlagen: Feuer berichtet über die Emigration der Familie von Polen nach Westdeutschland in den 1970er-Jahren. Wind ist eine Auseinandersetzung mit dem verwitweten Vater des Fotografen in Deutschland, fotografiert in Schwarzweiß. Und in Wasser beschließt der Fotograf das vierbändige Kompendium mit einer Hinterfragung seiner eigenen Identität in der neuen Wahlheimat Norwegen.

Jede Familie hat ihre eigene Sprache, ihre Codes, ihre Handlungsmuster. Und doch lassen sich grundsätzliche Vergleichbarkeiten herausfiltern. So zeigt sich das Projekt als vielschichtiger, spannender Vierklang, der eine herausfordernde Interpretation einer individuellen Lebens- und Familiengeschichte liefert und gleichzeitig mit den unterschiedlichsten Ausdrucksformen der Fotografie arbeitet. Verschiedene Techniken und Kameras, analog und digital, Farbe und schwarzweiß: Das Repertoire des Fotografen ist variabel. Genau das ist auch ein Hebel, um aus der sehr persönlichen Herangehensweise allgemeine Überlegungen zur Wahrnehmung und Erinnerung abzuleiten. Das Projekt ist weder leicht konsumierbar noch ganz einfach durchzublättern, aber gerade durch das Einfordern von Zeit und Aufmerksamkeit beim Betrachter und Leser entfaltet es eine emotionale und gleichzeitig überzeugende Kraft. Aufwand und Inhalt stehen dabei in einer ausgesprochen gelungenen Balance. (Ulrich Rüter)

Damian Michał Heinisch: Erde, Feuer, Wind, Wasser
Vier Bände im Leinenschuber
Texte von Walter Heinisch, Sophie-Charlotte Opitz, Kristian Skylstad, gestaltet von Andreas Rød Skilhagen
Auflage: 600 mit signiertem und nummeriertem Offsetprint
516 Seiten, 12 Ausklappseiten, 278 Farb- und 15 Duplexabb., 27,1 × 30,3 cm, Englisch/Deutsch
Kehrer
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Damian Michał Heinisch

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Damian Heinisch-portrait
© Damian Michał Heinisch

...wurde 1968 in Zabrze, Polen, geboren. Er studierte an der Folkwang Universität in Essen und lehrt Fotografie an diversen Institutionen in Oslo. 45, seine erste Publikation, wurde 2020 mit dem Mack First Book Award ausgezeichnet. Die Arbeiten, auf denen die Bücher 45 und Erde, Feuer, Wind, Wasser basieren, waren bereits in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen. Heinisch ist Leica Botschafter in Norwegen, und ein Hauptteil der Aufnahmen von Erde Feuer Wind Wasser wurde mit analogen und digitalen Leica-Kameras fotografiert. Mehr

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