Gone Missing

Bruno Morais

19. August 2021

Mit der Macht der Fotografie gibt Bruno Morais vermissten Menschen in Brasilien ein Gesicht.
Für den brasilianischen Fotografen ist die Fotografie ein ideales Vehikel für die Reflexion komplexer gesellschaftlicher Themen in seinem Heimatland. Wir sprachen mit ihm über sein Projekt, das verschwundenen Menschen in Brasilien ein Gesicht geben soll, und sinnierten über seine Herangehensweise, die geschickt Dokumentation und Fiktion vermischt.

LFI: Welche Rolle spielt die Fotografie in Ihrem Leben?
Bruno Morais: Von Anfang an stellte die Fotografie für mich einen Mechanismus dar, durch den ich meine Wahrnehmung der Realität verändern konnte. Sie hat mich gelehrt, die Welt um mich herum mit neuen Augen zu sehen, und sie spielt weiterhin die Rolle, mir die Erfahrung zu vermitteln, die Realität als privilegierter Betrachter zu beeinflussen.

Bitte erklären Sie, wie es zu Ihrem Fotoprojekt über vermisste Menschen in Brasilien kam.
Ich bin in den Favelas von Rio de Janeiro aufgewachsen und habe dort den größten Teil meines Lebens verbracht. Polizeigewalt war in meinem täglichen Leben immer präsent. Während der Megaevents in Rio de Janeiro (Fußballweltmeisterschaft und Olympische Spiele) basierte die Politik der öffentlichen Sicherheit der Regierung auf neuen Gewaltstrategien, was zu einem beträchtlichen Anstieg der Zahl der Verschwundenen in der Stadt führte. Durch diese Daten alarmiert, ging ich zum Menschenrechtssekretariat der Legislativversammlung und traf dort Marielle Franco, die damals Beraterin des Abgeordneten Marcelo Freixo war. Marielle war es, die mir die grundlegenden Informationen für den Beginn des Projekts gab und mich mit Forschern und auch Angehörigen der Verschwundenen bekannt machte.

Wie sah Ihr fotografischer Ansatz aus?
Das Verschwinden beinhaltet viele konkrete und subjektive Ebenen. Ich war mir bewusst, dass sich einige Aspekte besser darstellen lassen, wenn ich sie fiktional angehe, während andere die notwendige dokumentarische Dichte haben, um Gewalt als politische Ressource des brasilianischen Staats zu kontextualisieren. In den meisten Teilen des Projekts mische ich dokumentarische und fiktionale Sprachen, so dass die Erzählung an Komplexität und Tiefe gewinnt.

Welche Wirkung erwarten Sie von Ihrem Projekt?
Ich hoffe, einen Beitrag zu einer fotografischen Reflexion leisten zu können, die sowohl als historisches Dokument als auch als Werk eines Autors von Bedeutung ist. Ich möchte mich vielen anderen Stimmen anschließen, die tagtäglich den strukturellen Rassismus und die Gewalt im brasilianischen Staat anprangern.

Sie setzen sich aktiv für die Fotografie als pädagogisches Instrument und als Mittel des Wandels ein. Könnten Sie das näher erläutern? Was kann Ihrer Meinung nach die Fotografie für die Gesellschaft bewirken?
Ich glaube grundsätzlich an die Bildung von kritischen Konsumenten in Bezug auf die Bilder, die uns umgeben. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles in Bildern verdichtet ist, aber trotzdem haben die meisten keine aktive Beziehung zu ihnen; meistens ist diese Beziehung eine passive, unterwerfende. Wenn wir also eine gerechtere Gesellschaft wollen, müssen wir über die Rolle nachdenken, die wir als Erziehende spielen. Mittel, um Bilder zu erzeugen, gibt es überall – wir müssen sie nur zu unserem Vorteil nutzen.
Danilo Rößger
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Bruno Morais
EQUIPMENT: Leica Q, Summilux 1:1.7/28 Asph

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Bruno Morais_crédito Coletivo Pandilla
© Coletivo Pandilla

Bruno Morais (geboren 1975 in Rio de Janeiro) ist ein brasilianischer Fotograf, der seinen Abschluss an der Escola de Fotógrafos Populares in Maré, Rio de Janeiro, gemacht hat. In seiner Arbeit erforscht er das Potenzial der Fotografie, vielschichtige Geschichten zu erzählen, und stellt die Realität eher als Ausgangspunkt für Diskussionen denn als absolute Wahrheit dar. Mit einer Kombination aus fiktionalen und dokumentarischen Praktiken zielt seine visuelle Forschung darauf ab, die Komplexität der zeitgenössischen Probleme des globalen Südens aus einer erweiterten Perspektive widerzuspiegeln, die Exotismus und oberflächliche Dramatik vermeidet. Mehr

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