Buch des Monats: The Long Way Home of Ivan Putnik, Truck Driver

Vaste Programme

10. Mai 2021

Das italienische Künstlerkollektiv Vaste Programme hat das visuelle Tagebuch eines einsamen Lastwagenfahrers in Sibirien verfasst. Doch irgendetwas stimmt nicht mit den Bildern – das wird beim genauen Hinschauen deutlich…
Es gibt ein begleitendes Video zum Buch: Ein Mann sitzt an einem Tisch und blättert in Stapeln einfacher Fotoabzüge. Wir sehen nur seine Hände und hören seine Beschreibung, wie er als Lastwagenfahrer in Sibirien mit dem Fotografieren anfing. Ein Freund gab ihm eine Kamera und so dokumentierte er sein Leben. Das Lastwagenfahren ist ein einsamer Job. Er sagt, man gewöhne sich nach einer Weile an diese Einsamkeit, lerne mit ihr zu leben. Fotografieren sei eine Unterbrechung. Auf die Rückseiten hat er manchmal Kommentare geschrieben. Der Mann heißt Ivan Putnik und er blickt zurück, denn nun widmet er sich wieder ganz seiner eigentlichen Leidenschaft: dem Fliegenfischen. Hier sei er ein wahrer Künstler, sagt er.

Schaut man sich nun das kleine Album an, das gerade als Buch im niederländischen Verlag The Eriskay Connection erschienen ist, wird man ihm zustimmen, dass er kein begnadeter Fotograf ist. Endlose vereiste Straßen, trostlose Hochhaus-Vorstädte sind abgebildet, ebenso wie Landschafts- und ein paar Interieuraufnahmen. Ganz nebenbei, so scheint es, ist man aber auch Zeuge einer gigantischen Umweltzerstörung durch die rücksichtslose Gewinnung fossiler Brennstoffe in dieser abgelegenen Weltgegend. So lakonisch wie der Bildautor naturschöne Momente aufnimmt, rückt auch die radikale Veränderung der Landschaft durch Gaspipelines, Häfen oder Warentransport in den Blick. Und schaut man sich die Motive genauer an, so irritieren irgendwann auch die merkwürdigen Fehler auf den Abzügen. In den Landschaften gibt es Brüche und Bildsprünge: Straßen haben Kanten, Stromleitungen hängen trotz Lücken in der Luft. Das sind Bildphänomene, die man aus Google-Street-View-Ansichten kennt.

Und so lüftet sich auch das Geheimnis von Ivan Putnik. Er ist eine Erfindung des italienischen Künstlerkollektivs Vaste Programme. Die drei Mitglieder haben unterschiedliche Google-Street-View-Bilder, hochgeladen von vielen Autoren, zu einer vermeintlich stringenten neuen Geschichte zusammengestellt. So entwickeln die Fotografien einen neuen Kontext, wobei die fiktive Geschichte des Lastwagenfahrers trotzdem viel über den Zustand einer Gegend, die Zerstörung der sibirischen Landschaft durch die unkontrollierte Ausbeutung von Ressourcen aussagt. Im Buch werden die rund 50 Bildautoren aufgelistet, nur kurze Kommentare des vermeintlichen Urhebers Ivan Putnik ergänzen die Bildsammlung im Postkartenformat. Ein erklärender Text ist nicht hinzugefügt, man muss schon die Homepage des Verlags oder die des Künstlerkollektivs befragen, um die konzeptionelle Pointe des Buchs zu verstehen. Und dort stößt man dann auch auf das anfangs erwähnte Video.

Die seltsamste Sache, die Putnik je gesehen hat – so schließt das Video – hat er übrigens nicht fotografiert, denn da hatte er seine Kamera im Lastwagen vergessen. Und er verrät auch nicht, was es war, aber schon die jetzt publizierte Auswahl zeigt genügend Merkwürdigkeiten und lässt genügend Raum für eigene Assoziationen. (Ulrich Rüter)

The Long Way Home of Ivan Putnik, Truck Driver
Vaste Programme, 144 Seiten, 96 Farbabbildungen, 11,5 × 16,3 cm, englisch
The Eriskay Connection
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Vaste Programme

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Das Trio hat 2017 zusammengefunden und entwickelt gemeinsam künstlerische Projekte. Die Arbeit von Giulia Vigna (*1992), Leonardo Magrelli (*1989) und Alessandro Tini (*1988) konzentriert sich auf Post-Fotografie und neue Medien. Sie verwenden Materialien und Objekte aus dem alltäglichen Leben, geben ihnen Bedeutung und Aufmerksamkeit. Mit der Wiederverwendung und Kombination gefundener Bilder enthüllen sie unvorhergesehene Aspekte und neue Bedeutungen. The Long Way Home of Ivan Putnik, Truck Driver ist ihre erste gemeinsame Publikation. Mehr

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