Indiens großer Schatten

Torsten Andreas Hoffmann

27. April 2021

Mit einer Leica CL bewegte sich Torsten Andreas Hoffmann im Dezember 2019 durch die Slums der 18-Millionen-Metropole Mumbai. Mit seiner Serie Indiens großer Schatten will er den Blick auf die wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen der westlichen Welt und dem Subkontinent lenken. Der Fotograf hat eine klare Botschaft, die er hier vermittelt.
LFI: Indien ist ein fotografisch viel bearbeitetes Thema. Was hat Sie dazu bewogen, es selbst aufzugreifen?
Torsten Andreas Hoffmann: Indien interessiert mich schon seit meinem 23. Lebensjahr. Es ist ein einzigartiger kultureller Kosmos, dessen vielfältige Traditionen bis heute zu einem großen Teil erhalten sind. Außerdem ist es knapp hinter China das bevölkerungsreichste Land der Erde.

Sie fotografieren in Slums und zeigen ungeschönt den Alltag in Indien. Warum haben Sie Ihren Fokus auf die Slums gelegt?
Zunächst einmal haben wir es bei der Globalisierung mit einem Wirtschaftssystem zu tun, dass seine Ressourcen so ungleich verteilt, dass die 85 reichsten Menschen so viel besitzen wie die drei Milliarden ärmsten. Das ist eine ungeheure Schieflage. In Mumbai ist diese Ungleichheit so sichtbar wie an keinem anderen Ort, den ich kenne. Da hat es mich interessiert, einmal den Spot auf die Ärmsten zu lenken, um dazu beizutragen, etwas mehr Bewusstsein für diese extreme Ungleichheit zu erzeugen. Außerdem interessierte es mich, wie man es schafft, unter solchen, nach unserem Standard, extrem unwürdigen Bedingungen zu leben und dabei eine Lebendigkeit und Vitalität an den Tag zu legen, die wir bei uns teilweise vergeblich suchen.

Welche Herausforderungen gab es für Sie dabei?
Ich achte vor allem darauf, dass ich trotz der extremen optischen Unruhe, die dort herrscht (sowohl seitens der Farben und Formen als auch durch die ständige Bewegung) zu klar gebauten Bildkompositionen komme. Die meisten Bilder sind mit leichter Weitwinkelbrennweite fotografiert, sodass dadurch auch Dichte entsteht.

Mit welcher Kamera haben Sie gearbeitet?
Ich habe mich bei diesem Projekt für die Leica CL entschieden, weil sie gegenüber meinem Canon-Vollformatsystem so klein und handlich ist und dabei mit ihren 24 Megapixeln trotzdem eine ausgezeichnete Bildqualität liefert. Ich habe in Indien nur mit dem Vario-Elmar-TL 1:3.5–5.6/18–56 Asph gearbeitet. Diese kleine Leica ist ideal, sie schafft deutlich weniger Distanz zwischen mir und den Menschen und ich falle nicht so auf wie mit der „dicken“ Vollformatkamera. Nur ein Update für einen Bildstabilisator würde ich mir für diese Kamera von Leica sehr wünschen.

Die Serie haben Sie in Farbe und in Schwarzweiß umgesetzt. Worin unterscheidet sich die Wirkung?
Die Schwarzweißfotografie lässt die Slums von Mumbai noch einmal anders erscheinen, denn als Schwarzweißfotograf betrachtet man die Farben eher als ästhetischen Schleier, der sich über die tiefere Wahrheit von Armut und Elend in diesem Land legt. Enthüllt nicht die Schwarzweißfotografie die gesellschaftliche Wahrheit, weil sie die bunte Oberfläche einfach weglässt und so in die Tiefe führt? Auf der anderen Seite ist es wieder Ausdruck der indischen Mentalität, trotz Armut und Elend fröhlich zu sein und diese Fröhlichkeit in den bunten Farben von Kleidung und Gebäuden ihren Ausdruck finden zu lassen. Ob Schwarzweiß oder Farbe – dem Wesen der indischen Slums gerecht zu werden, ist also eine Frage der Betrachtungsweise.

Welche Nachricht steht über Ihren Bildern?
In jedem Fall möchte ich den Betrachtern ins Bewusstsein rücken, wie sehr wir in unseren reichen Ländern auf Kosten der armen Länder leben und dass wir das nicht verdrängen sollten, sondern gerade in Corona-Zeiten unsere Bereitschaft abzugeben, deutlich erhöhen müssten. Wir brauchten weltweit eine Umverteilung, um das riesige Ungleichgewicht etwas mehr ins Gleichgewicht zu bringen und beim Wort Umverteilung meine ich keineswegs Sozialismus, sondern einen etwas menschenfreundlicheren Kapitalismus, bei dem nicht einige wenige sich den allergrößten Teil vom Kuchen unter den Nagel reißen und fast der Hälfte der Menschheit nur noch ein paar Krümel übrig lassen. Das zweite, was mich in den Slums ungemein beeindruckt hat, ist, mit wie unglaublich wenig man auskommen kann und wie sehr es dort auf herzliche menschliche Beziehungen und Fürsorge innerhalb der Familien ankommt.
Carla Susanne Erdmann
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Torsten Andreas Hoffmann
EQUIPMENT: Leica CL mit Vario-Elmar-TL 1:3.5–5.6/18–56 Asph

Torsten Andreas Hoffmann+-

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© Torsten Andreas Hoffmann

Geboren in Düsseldorf. Er studierte Kunstpädagogik mit Schwerpunkt Fotografie an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Fotoreisen führten ihn u.a. nach Indien, Indonesien, Mexiko, Nepal, in die Türkei, die USA, die Sahara und die Vereinigten Arabischen Emirate. Er hat mehr 20 Fotobücher veröffentlicht. Seine Arbeiten waren unter anderem in Magazinen wie Geo, Merian, Chrismon, Photographie und mare zu sehen und wurden national und international ausgestellt. Mehr

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