Den Blick schärfen

Tomas van Houtryve

19. Juli 2024

Fotografieren ohne jegliche Ablenkung, das verspricht Leica mit der M-D Linie ohne Display. Über die Reduktion sprechen wir mit Tomas van Houtryve. 
Aus der modernen Digitalfotografie ist das Display nicht wegzudenken. Selbst wenn Fotografen ihre Bilder primär im Sucher gestalten, so geht meist der Kontrollblick ob der richtigen Belichtung und Gestaltung aufs Display. Ebenso selbstverständlich wie für viele Fotografen ist auch bei den meisten Akteuren vor der Kamera eine erlernte Erwartungshaltung, das Bild sofort anschauen zu können. Wir sprechen mit einem, der bewusst darauf verzichtet.

Der in Belgien geborene Reportagefotograf Tomas van Houtryve fotografiert heute die meisten seiner Projekte mit der Leica M10-D, einer digitalen Messsucherkamera, bei der die Ingenieure bewusst auf den Bildschirm verzichtet haben. Nichts soll bei diesem Modell vom eigentlichen Fotografieren ablenken, ganz so wie zu analogen Zeiten. Seine ersten Erfahrungen mit der Kamera hat er vor rund fünf Jahren im Zuge einer privaten Passion gesammelt: unterwegs über den Dächern von Paris. Wir sprechen mit ihm über seine Erfahrungen und über die Zukunft der displaylosen Digitalfotografie.

LFI: Sie waren mit der Leica M10-D über den Dächern von Paris unterwegs und haben einige beeindruckende Bilder gemacht. Wie würden Sie Ihr Projekt beschreiben?
Tomas van Houtryve: Seit ich vor fast 20 Jahren nach Paris gezogen bin, bin ich von den Dächern fasziniert. Meine erste Wohnung in Paris war eine winzige chambre de bonne, ein Dienstbotenzimmer, im obersten Stockwerk, wo ich durchs Fenster aufs Dach klettern konnte. Alles sieht anders aus als aus der Straßenperspektive, aus der wir die Stadt normalerweise erleben. Die Denkmäler scheinen über einem großen grauen Meer von zinkbedeckten Dächern zu schweben. Alte Schornsteine ragen in seltsamen Winkeln in den Himmel. Schließlich begann ich, mich bei verschiedenen Freunden und Bekannten um einen Zugang zu den Dächern zu bemühen, damit ich die Stadt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten konnte. In den letzten vier Jahren hatte ich auch Zugang zur Kathedrale Notre-Dame, die den ultimativen Dachaussichtspunkt im Zentrum von Paris bietet.

Welche Vorteile sehen Sie in der Digitalfotografie ohne Display?
Digitale Bildschirme und EVFs bieten zwar viele praktische Vorteile, aber ich finde, dass sie eher dazu verleiten, eine bestimmte kreative Geisteshaltung zu unterbrechen. Als Künstler kann ich, wenn die Bedingungen stimmen, in einen Flow-Zustand mit erhöhter Aufmerksamkeit geraten. Die Ablenkungen haben meinen Geist verlassen. Ich antizipiere und reagiere auf alles in meinem Gesichtsfeld auf einer rein intuitiven Ebene. Für mich sind das einige der schönsten Momente in der Fotografie.

Erkennen Sie einen möglichen Gegentrend zur herkömmlichen Digitalfotografie mit Display?
Ich weiß nicht, ob es sich schon um einen Trend handelt, aber ich kann sagen, dass viele Menschen, mich eingeschlossen, einen Sättigungspunkt mit Bildschirmen erreicht haben. Sie sind in unserem Leben allgegenwärtig. Viele starren heute mehr Stunden pro Tag auf ihre Bildschirme als auf die Realität. Macht uns der Bildschirm-Maximalismus wirklich glücklicher oder kreativer? Meiner persönlichen Erfahrung nach ist es besser, den Bildschirmen gewisse Grenzen zu setzen und sich Zeit für ein Leben ohne sie zu nehmen. Ich versuche, mir genau zu überlegen, wann ich einen Bildschirm brauche und wann ich darauf verzichten kann. Ich finde es erfrischend, dass ich mit meiner M-D die Vorteile der digitalen Fotografie nutzen kann, ohne einen weiteren Bildschirm in meinen Tag einzubauen.

Wie verändert das Fotografieren ohne Display Ihre Praxis?
Wenn man das Display entfernt, kommt man der analogen Fotografie näher. Es gibt weniger Gewissheit über das Ergebnis des Fotos, und es erfordert mehr regelmäßige Übung. Es ist wichtig, den Umgang mit der Kamera zu üben, bis er völlig intuitiv wird. Denken Sie an einen Musiker. Wenn jemand ein Lied oft genug probt, kann er mit geschlossenen Augen spielen und sich ganz von der Musik mitreißen lassen. Es ist möglich, in einen Flow-Zustand zu kommen. Etwas Ähnliches kann beim Fotografieren unter den richtigen Bedingungen passieren.

Können Sie einen Unterschied in den Bildern erkennen?
Wenn ich perfekte Präzision bei der Komposition oder der Belichtung brauche, finde ich es hilfreicher, ein Display oder einen EVF zu verwenden. Wenn ich ganz offen Menschen fotografiere oder Straßenfotografie betreibe, arbeite ich lieber ohne Display. Ohne das Display bin ich im Moment präsenter, nehme die Emotionen der Leute besser wahr, kann Aktionen besser antizipieren und habe eine kreativere Denkweise. Der Unterschied besteht darin, dass die Fotos ohne Bildschirm weniger präzise sind, dafür aber die Stimmung, das Gefühl und die Handlung besser einfangen.

Was ist Ihr aktuelles oder nächstes Projekt mit der Leica M-D?
Mit Ausnahme der Porträtfotografie ist die M-D meine Hauptkamera für das Fotografieren von Menschen. Ich verwende sie für alle meine Reportageprojekte, bei denen es um Menschen geht. Ich benutze sie auch als Alltagskamera für meine Familie und Freunde.

Wem würden Sie eine solche Kamera besonders empfehlen?
Dies ist eine Kamera für Leute, die eine kreative Einstellung kultivieren und beibehalten wollen. Sie ist für diejenigen, die bereit sind, eine Pause von den Bildschirmen zu machen und die Realität schärfer zu beobachten. Sie ist für die, die erkennen, dass weniger manchmal mehr ist.
Pauline Knappschneider, Tobias Habura-Stern
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Tomas van Houtryve
EQUIPMENT: Leica M10-D, Summicron-M 1:2/35 Asph

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BIO
© Brian Sokol

Studierte zunächst Philosophie. Nach seinem Abschluss wandte er sich dem Fotojournalismus zu. 2010 wurde er Mitglied der Agentur VII. 2012 erschien sein erstes Buch: Behind the Curtains.=12px 2013 begann van Houtryve das Projekt Blue Sky Days.=12px Für diese Arbeit wurde er 2015 u.  a. mit dem ICP Infinity Award ausgezeichnet und belegte einen zweiten Platz beim World Press Photo Award. Van Houtryve lebt in Paris. Mehr

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