Caracas – Porträt einer Stadt

Ronald Pizzoferrato

26. März 2021

Widersprüchlich, komplex und immer in Veränderung: Ronald Pizzoferrato entwirft mit seinen Aufnahmen ein eindrucksvolles Porträt der venezolanischen Hauptstadt und bricht dabei mit überstrapazierten Klischees.
Caracas ist auf vielen Ebenen überwältigend, fordernd und widersprüchlich. Gerade deshalb hat sich Ronald Pizzoferrato, selbst geborener Venezolaner, der Aufgabe angenommen, ein fotografisches Porträt der Stadt zu schaffen. Im Interview spricht er über die sich ständig verändernde Vielfalt, reflektiert seine Rolle als Fotograf und bricht die immer wiederkehrenden, überstrapazierten Klischees der Stadt.

LFI:Wie nehmen Sie Caracas als Fotograf wahr, wenn Sie durch die Stadt streifen?
Ronald Pizzoferrato: Ich versuche eine „kolonialistische“ Position zu vermeiden, die nur die Rollen „Fotograf“ und „Fotografierte“ kennt – ich bin hier nur einer von vielen Menschen. Es gibt hier nichts, dass nach Aufmerksamkeit sucht, hier gibt es nichts „Fotografierbares“, denn die Stadt ist kein Zirkus oder Zoo, in dem ich versuche, etwas auszustellen. Meine Arbeit besteht eher in einer Suche danach, wie ich die Stadt und ihre besondere Schönheit durch Familie, Freunde oder Bekannte reflektieren kann. Es ist eine Sichtweise, die Außenstehenden eher schwerfällt.

Das Klischee, dass Caracas eine der gefährlichsten Städte weltweit sei, hält sich dennoch hartnäckig. Was ist an Ihrer Arbeit die größte Herausforderung?
Vermutlich, diese ständige Stigmatisierung nicht zu reproduzieren. Die Menschen in Caracas sind dessen, was die Fotografen aus dem In- und Ausland zeigen, überdrüssig. Das Leben hier besteht nicht nur aus Gefahr und Armut. Deshalb ist es für mich das Schwierigste, den Leuten verständlich zu machen, dass es eine Reihe von Menschen gibt, die andere Narrative suchen möchten. Und hier kommt die Komplexität ins Spiel: Ein Fotograf kann in einer Stadt wie Caracas als Bedrohung oder sogar als Infiltrator gesehen werden, aber mit Themen wie Kriminalität und Unsicherheit kann man als Einheimischer umgehen und so die reale Gefahr verringern. Das alles ist für Außenstehende natürlich schwer greifbar, und nicht so einfach wie es klingt, da die Stadt durch ständig wechselnde Normen, Regeln und Kodizes immer wieder verlangt, sich erneut anzupassen.

Wie beschreiben Sie die Atmosphäre in der Stadt?
Visuell und klimatisch ist es mir die liebste Stadt auf der Welt. Caracas ist wie ein Paradies in einem urbanen Kontext, aber die Fragilität macht die Stadt zu einer Herausforderung: Alles kann sich in jederzeit von gut zu schlecht ändern und manchmal so schnell, dass man es gar nicht merkt. Caracas ist eine Stadt, der man in ihrer Gesamtheit vertrauen kann, an der man sich aber auch unweigerlich messen lassen muss. Eine Stadt, in der das Logische und das Unlogische ein gemeinsames Narrativ finden können, in der widersprüchliche Dinge zusammenkommen. Es klingt seltsam, aber ich glaube, das ist das Wort, mit dem ich die Atmosphäre am besten beschreiben kann: utopisch. Das Auffälligste für mich ist, dass es selbst für einen Einheimischen keine Garantie gibt, dass er die Stadt versteht, sie hat viele Schichten, Gesichter und Realitäten – und die verändern sich alle immer wieder.

Mit Ihrer Arbeit berichten Sie über humanitäre Krisen und soziale Themen. Betrachten Sie Ihre Arbeit als politisch?
Meine Fotografie ist sehr politisch. Ich bin in Venezuela geboren und aufgewachsen und erlebe regelmäßig die politischen Vorgänge um mich herum. Es ist fast unmöglich, sich von dieser Realität abzukoppeln. Wenn man die Politik in einer Stadt wie Caracas nicht versteht, versteht man auch die Stadt selbst nicht. Aber obwohl meine Fotografie politisch ist, ergreift sie nicht Partei für die nationale Regierung oder die Opposition. Auch abgesehen davon gibt es viele politische Akteure, die bestimmte visuelle Narrative für ihre eigenen Interessen nutzen möchten. Caracas selbst produziert ununterbrochen neue Dynamiken, denen allen eine eigene Politik innewohnt und die sich in gegenseitiger Abhängigkeit auch wahnsinnig schnell ändern können. Es ist eine sehr politische Stadt.
Danilo Rößger
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Ronald Pizzoferrato
EQUIPMENT: ​​​​​​​Leica M-P (Typ 240) und Leica M6 mit Voigtländer Nokton 1:1.4/35 und Voigtländer Nokton 1:1.1/50

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© Max well
© Max Well

Ronald Pizzoferrato ist ein venezolanischer Künstler und Fotograf, der in Caracas geboren und aufgewachsen ist und derzeit in der Schweiz lebt. Im Jahr 2020 hat er sein Masterstudium in Kunst und Design an der Zürcher Hochschule der Künste erfolgreich abgeschlossen und wurde mit dem Preis für das beste Masterprojekt (Förderpreis 2020) ausgezeichnet. Seine visuelle Kunst dreht sich um Themen wie Gewalt, Marginalisierung, Armut, Migration und Dekolonisierung. Er arbeitet als freiberuflicher Fotograf für NGOs und andere Institutionen sowie an selbst initiierten Projekten in Lateinamerika. Sein Ansatz ist es, marginalisierte Realitäten zu visualisieren und die Öffentlichkeit über Themen aufzuklären, mit denen sie nicht vertraut ist. Angesichts der Tatsache, dass die Fotografie während des Imperialismus/Kolonialismus zur Exotisierung der Menschen beigetragen hat, ist es für ihn entscheidend, authentische Darstellungen nicht-westlicher Realitäten zu liefern. Mehr

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