Buch des Monats: Sacred Land

Ralph Gibson

19. Januar 2021

Auf drei Reisen durch Israel stellte sich der renommierte, vielfach ausgezeichnete Leica-Fotograf den komplexen Eindrücken des Landes. Seine Entdeckungen sind nun in seinem jüngsten Bildband zu erleben.
Israel hat viele Gesichter. Die Vielfältigkeit der Landschaft und des Klimas – von der Mittelmeerküste über Wüsten bis in den bergigen Norden, die unterschiedlichen Stimmungen in den Städten, das Leben in den Siedlungen und Dörfern, die verschiedenen Einwohnergruppen, die trotz aller Gegensätze versuchen, in einem Land gemeinsam zu leben: Als Ralph Gibson 2019 zum ersten Mal in seinem langen Leben Israel für sich entdeckte, war auch er rasch eingenommen von der Komplexität des Landes. Der Fotograf stellte sich dieser Herausforderung und die nun vorliegende Publikation zeigt das Ergebnis seiner Erkundungen.

Natürlich ist auch dieser Bildband keine einfache Abfolge von Motiven, sondern besonderes Augenmerk legte der Fotograf auf die Gestaltung der Doppelseiten. Insgesamt 85 Bildpaare und weitere doppelseitig gedruckte Motive ergeben ein überraschendes Kaleidoskop, das den Betrachter immer wieder zu Gedankenspielen anregt. Manchmal sind die Analogien oder Gegensätze von Formen und Materialien sofort dechiffrierbar, manchmal erschließt sich der Dialog zwischen den Bildern nur langsam, vielleicht bleiben Gibsons Entscheidungen für eine bestimmte Komposition auch offen. Umso mehr lässt sich dieses poetische und assoziative Vorgehen für eigene Deutungen nutzen. Auf jeden Fall gelingt ein Einblick, wie Gibson visuell denkt und fotografisch arbeitet. Ihm fallen die kleinsten Details auf, ob architektonische Besonderheiten, Markierungen auf einem Panzer oder die bunten Schichten eines Bonbons: Erst mit der Auswahl und der Hervorhebung, zumeist im engen Ausschnitt, erhalten die Dinge eine neue Bedeutung.

Zwischen den Aufnahmen von Oberflächen und Gegenständen sind es dann immer wieder Personen und Gesichter, die er für seine Bildpaare ausgewählt hat. So kann eben auch das Bild einer Ikone, die er im Israel-Museum fotografierte, mit einer sportlichen Motorradfahrerin in Tel Aviv kombiniert werden. Ihr glänzender Helm korrespondiert in dem Bildband überraschend mit der metallischen Textur der Ikone. Die zerfransten Austrittsspuren einer panzerbrechenden Granate auf einer Metallfläche setzt er mit einem jahrtausendealtem Marmorrelief in Beziehung. Auch wenn die eine Form in einem Bruchteil einer Sekunde entstand und die andere Form sorgfältig geschnitzt wurde: Die spannende Textur macht die Artefakte für Gibson vergleichbar.

Immer wieder zeigt sich die Faszination Gibsons für die Verbindung unterschiedlicher Zeiten und Jahrhunderte. Seine Erkenntnis, dass in Israel gleichzeitig uralte Kultur und die extrem junge Gegenwart sich immer wieder zu spannenden Schnittmengen verbinden, belegt der Bildband überraschend überzeugend. „Israel ist das älteste und das jüngste Land der Welt – die Vergangenheit ist lebendiger Teil der Gegenwart“, so Gibson in seiner Einleitung: „Das Land kämpft um das Überleben von außen und die Definition von innen.“ Die Konflikte, die das Land immer wieder zu zerreißen drohen, werden zwar nicht direkt ins Bild gerückt, aber die Spannungen sind in der Bilderfolge sichtbar. Israel bleibt eines der größten Wunder unserer Zeit. (Ulrich Rüter)

Ralph Gibson: Sacred Land. Israel Before and After Time
(Konzipiert und produziert von Martin Cohen)
Mit einem Vorwort von Martin Cohen und einer Einleitung von Ralph Gibson. Nachworte von Moshe Safdi und Rabbi David Ellenson.

216 Seiten, 88 Farb- und 100 Duotone-Abbildungen, 23,5 x 31,88 cm, Englisch

Lustrum Press
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Ralph Gibson

Ralph Gibson+-

RG-Beverly Glen, 1967
© Ralph Gibson, 1967

Wurde am 16. Januar 1939 in Los Angeles, Kalifornien, geboren. Studium der Fotografie bei der U.S. Navy und von 1960–62 am San Francisco Art Institute, Arbeit als Assistent bei Dorothea Lange 1961–62 und Robert Frank 1967–68. Seinen Verlag Lustrum Press gründete Gibson 1969. Mittlerweile sind über 40 Monographien erschienen. Er ist in den wichtigsten Sammlungen und Museumskollektionen vertreten, wurde international ausgestellt und vielfach ausgezeichnet, darunter 1988 mit der Leica Medal of Excellence, 2018 mit dem französischen Verdienstorden L’ordre national de la Légion d’honneur, und 2021 wurde er in die Leica Hall of Fame berufen. Er lebt in New York. Mehr

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