Buch des Monats: Der Eid/The Oath

Jörg Gläscher

18. Oktober 2021

Wie kann man Demokratie visualisieren? Der Bildband des deutschen Fotografen Jörg Gläscher präsentiert mögliche Vorschläge.
Corona-Krise, Wutbürger, Gelbwesten, Panama-Papers, Wahl- und Korruptionsskandale: Die Medien sind derzeit nicht arm an Nachrichten über aktuelle Probleme und gesellschaftliche Verwerfungen in demokratischen Staaten. Und nicht zuletzt die Erfahrungen im Umgang mit der Corona-Pandemie und ihrer Bewältigung haben die Fähigkeiten, aber auch die Unzulänglichkeiten von Staatssystemen verdeutlicht. Vertrauen und Zuversicht in die staatlichen Organe, aber auch Misstrauen ihnen gegenüber, haben ganze Gesellschaften auseinanderdriften lassen.

Die Serie des in Leipzig lebenden Fotografen (*1966) war bereits vor der Corona-Krise fertiggestellt, sein Buch lädt allerdings umso mehr dazu ein, ein Bild des demokratischen Staats zu entwickeln und anhand der Motive Fragen von Macht und Gesellschaft und damit ebenso das Verhältnis von Bürgern und Staatsdienern zu veranschaulichen und gleichzeitig zu hinterfragen. In den Jahren 2018 und 2019 war Gläscher in elf Ländern auf vier Kontinenten unterwegs. Seine Serie entstand in Deutschland, Frankreich, Griechenland, Island, Polen, Ungarn, Georgien, Indien, Indonesien, Sambia und den USA. Allein mit dieser Länderauswahl präsentiert sich eine komplexe Vielschichtigkeit, denn die Verflechtungen von Staat und Gesellschaft fallen in den besuchten Ländern deutlich unterschiedlich aus. Legislative, Exekutive und Judikative stehen, flankiert von der freien Presse als vierter Kraft, nicht immer selbstverständlich gleichberechtigt nebeneinander.

Wer ist der Staat, wer verkörpert ihn? Mit diesen Grundfragen im Gepäck stellte der Fotograf daher die Repräsentanten in den Mittelpunkt seiner Serie. Keine prominenten Politiker, sondern Richter, Staatsanwälte, Bürgermeister, Strafvollzugsbeamte oder Polizisten werden in ihren Arbeitsumfeldern porträtiert. Viele Gruppenaufnahmen erinnern an Historiengemälde, die Ernst und Würde transportieren. Aber meist zeigt Gläscher seine Protagonisten allein: selten entspannt lächelnd, sondern eher von der Amtsschwere gezeichnet. Alle haben sich entschieden, dem Staat zu dienen. Titelgebend für seine Bildserie ist daher der in fast allen Staaten der Welt abzugebende Schwur der Staatsdiener, die auf die jeweilige Verfassung und die Gesetze eines Landes vereidigt werden. Neben diesen intensiven Porträts zeigt das Bildrepertoire des Fotografen auch deutlich dynamischere Szenen, beispielsweise mit brennenden Barrikaden und hochgerüsteten Polizisten. Ein besonderes Faible scheint der Fotograf ganz nebenbei für zufällig entdeckte Stillleben in Amtsstuben und Sitzungssälen gefunden zu haben. Diese Motive brechen die Abfolge der Porträts und lenken den Blick noch einmal deutlich humorvoller auf die Ebene der Alltäglichkeit bürokratischer Prozesse.

Demokratie ist kein fixierter Zustand, sie muss gelebt werden, stetig neu erstritten und bewegt werden. In der Vielschichtigkeit von Gläschers Aufnahmen zeigt sich eindrücklich, dass der Staat nicht als etwas Feindliches, Fernes gesehen werden, sondern der Anspruch nach Gerechtigkeit und Gemeinwohl im Mittelpunkt stehen sollte: Notwendig sind hierfür mündige Bürger ebenso wie leidenschaftliche Staatsdiener. Es gibt viele Arten, den Eid zu erfüllen – oder ihn zu ignorieren. Ein spannendes Buch, aktueller denn je. (Ulrich Rüter)

Jörg Gläscher: Der Eid/The Oath
Mit einem Text von Sonja Zekri; Design: Florian Lamm
208 Seiten, 115 Farbabb., Deutsch/Englisch, 24 × 30 cm
Hartmann Books

Alle Bilder auf dieser Seite: © 2021 Jörg Gläscher
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Jörg Gläscher

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© Andreas Herzau

...wurde 1966 in Osnabrück geboren, studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Er war Dozent an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hannover und an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen und Auszeichnungen. Seit 2000 ist er Mitglied der Fotoagentur Laif; er lebt und arbeitet in Leipzig. Mehr

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