Europea

Joakim Kocjancic

10. August 2021

Joakim Kocjancic spricht über seinen persönlichen, oft melancholisch erscheinenden Roadtrip quer durch Europa.
Der im letzten Jahr beim schwedischen Verlag Max Ström erschienene Bildband Europea ist ein sehr persönlicher, oft melancholisch erscheinender Roadtrip quer durch den Kontinent. Mit seiner Leica M6 hat der schwedische Fotograf eine spannende Reflexion komponiert, die zeigt, was Europa heute für ihn ist und was die europäische Idee ausmacht. Wir sprachen mit ihm über dieses und neue Projekte.

LFI: Ihr Buch ist eine Hymne an das vereinte Europa …
Joakim Kocjancic: Ja, ich feiere den gemeinsamen kulturellen Hintergrund, den die europäischen Länder haben. Es ist ein persönliches Werk; die Bilder aller Städte, die ich fotografiert habe, entstanden, weil ich dort gelebt oder einen Freund oder die Familie besucht habe. So wurde Europea zu einer Erweiterung meiner selbst, zu einem Weg, neue Seiten zu entdecken, mich zu öffnen, meine Identität auf weitere Schichten auszudehnen. Europea ist ein poetisch-humanistischer Essay, eine Hommage an die Menschen und an das Ungewöhnliche im Alltäglichen.

Sind Sie immer noch so hoffnungsvoll wie vor ein paar Jahren, was die Idee eines vereinten Europas angeht?
Ja! Die Dinge ändern sich so schnell, und die Situation ist kompliziert, aber ich hoffe, dass Europa weiterhin offen und geeint sein kann. Was mein Buch durch Bilder zeigen will, ist die Tradition des europäischen Humanismus, das unglaubliche kulturelle Erbe, das Europa und wir mit seinen großen humanen Ideen hinter uns haben. Ich hoffe, dass diese Tradition stärker wird und dass Europa nicht nur als geografische und wirtschaftliche Einheit betrachtet wird.

Wie erleben Sie die derzeitigen pandemiebedingten Einschränkungen?
Ich muss zugeben, dass ich im Moment noch nicht das Verlangen habe, unter den zusätzlichen Regeln und Einschränkungen zu reisen. Wenn ich fotografiere, ist es mir wichtig, mich frei bewegen zu können, in meinen Workflow zu kommen und mich inspirieren zu lassen. Es wird sehr interessant sein, wie ich mich fühlen werde, wenn ich es wieder kann.

Wenn Sie Ihr Projekt heute neu starten würden, wo würden Sie Ihre Reise beginnen?
Europea ist ein persönliches Projekt, ich bin in diesen Städten gewesen, weil das Leben mich dorthin gebracht hat, ich habe mir die Städte nicht ausgesucht, um sie zu fotografieren. Ich suche immer nach einer Verbindung zu dem Ort, den ich fotografiere, ich bin nicht an reiner Reisefotografie interessiert. Bisher war ich nicht viel im Osten Europas unterwegs. Ich bin fasziniert von Städten wie Warschau, Bukarest, Budapest, Sofia und Belgrad. Eine weitere Stadt, die ich gern besuchen und fotografieren würde, ist Athen. Das könnte die Stadt sein, in der ich meine zweite Europea-Reise beginnen würde.

Was sind Ihre Wünsche für die Zukunft – in Bezug auf Europa, aber auch persönlich für Ihre Arbeit?
Ich wünsche mir, dass Europa offen und geeint bleibt, dass wir uns weiterhin frei zwischen den Ländern bewegen können, arbeiten, studieren, reisen, Ideen austauschen. Ein Leitspruch für mich ist von George Steiner: "Die Welt der Kultur ist von entscheidender Bedeutung für die Qualität des menschlichen Lebens." (Aus der Einleitung seines Buches: The Idea of Europe, Overlook Press, 2015) Für meine Arbeit wünsche ich mir eine große Europea-Ausstellung, und ich hätte gern mehr Zeit zum Fotografieren sowie zum Anfertigen großer Abzüge in meiner Dunkelkammer.

An welchen Projekten arbeiten Sie derzeit?
An vielen. So an einem Projekt in Bukarest. Es sind Straßenfotos, Atmosphären, Gebäude, Stadtansichten und Straßenporträts mit dem Fokus auf der jungen Generation, die nach dem Sturz von Ceaușescu geboren wurde. Ich war schon zweimal dort, 2019 und 2020, und hoffe, im September wieder dorthin fahren zu können. Außerdem würde ich gern ein laufendes Langzeitprojekt mit dem Titel Mediterraneo abschließen, ein sehr offenes und poetisches Projekt über den Mittelmeerraum. Es geht um ein Gefühl, ziemlich noir und klassisch, von einer Welt, die in der Zeit zwischen Träumen und Realität schwebt. Mein Ziel ist es, dass all diese Projekte bald zu Büchern werden. Das Büchermachen ist ein sehr wichtiger Teil meiner Projekte. Bei Europea hat es zwei Jahre gedauert, bis das PDF des Buches fertig war. Ich traf mich alle ein bis zwei Monate mit La Strada Studio in einem Café, um die Sequenz und neue Drucke noch einmal anzuschauen oder neue Ideen für das Buch zu diskutieren. Es war ein langsamer Prozess, der notwendig war, um in das Projekt einzutauchen, auch wegen der großen Menge an Abzügen.

Sie arbeiten weiterhin mit einer Leica M?
Ja, immer noch mit einer M6 und einigen Point-and-Shoot-Kameras. Ich liebe einfach die filmische Qualität von 35 mm und der Leica M6.

Vielen Dank für das Interview. Wir freuen uns auf Ihre nächsten Projekte!
Ulrich Rüter
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Joakim Kocjancic
EQUIPMENT: Leica M6

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Kocjancic (C) Pierre Vincensini
© Pierre Vincensini

Seine Familiengeschichte ist international: 1975 in Mailand mit slowenischen Vorfahren und als Kind einer Schwedin und eines Italieners geboren, hat er in vielen europäischen Ländern gelebt. Nach einem Studium der Malerei in Florenz und Carrara von 1998 bis 2002 folgte 2005 ein M. A. in Fotojournalismus in London. Seit 2006 ist Stockholm sein Lebensmittelpunkt. Nach Paradise Stockholm (2014, Journal) und Europea (2020, Max Ström) ist Bucharest sein drittes großes Langzeitprojekt. Mehr

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