Buch des Monats: Los Angeles
Buch des Monats: Los Angeles
Christian Werner
8. April 2019
Die erste Regel mag lauten: fotografiere keine Menschen! Keine Stars und Sternchen, nicht einmal ein Krümel Sternenstaub für alle Hoffnungsvollen, die ihr Glück in der Metropole versuchen. Kein Mensch ist mehr da, die Straßen und Plätzen unter der gleißenden Sonne Kaliforniens sind leer. Hat die letzte, ultimative Krise alle Bewohner zur plötzlichen Massenflucht getrieben? Fast scheint es so – und umso besser kann der Fotograf nun in aller Ruhe die merkwürdigen, teils absurden Hinterlassenschaften dokumentieren, Pool-Staubsauger oder Plastikrequisiten inbegriffen.
Regel zwei: fotografiere Tiere, jedenfalls diejenigen, die noch da sind! Allerdings sind diese entweder ausgestopft oder auch aus Keramik und Beton geformt – nur ganz wenige lebendige Vögel kreisen über der Stadt oder langweilen sich an städtischen Gewässern. Und auch die Natur – wenn man die in Beton eingefriedeten Palmen- und Sukkulentenfelder so bezeichnen möchte – hat in L.A. schon bessere Tage gesehen. Halbvertrocknete Pflanzen trotzen in bizarren Stillleben der Tristesse der Stadtanlage. Diese ist eben bestimmt von den Highways, die den Stadtraum gliedern.
Regel drei: vermeide alle bekannten Filmbilder, die sich einstellen könnten, sobald man die Architektur und Straßen der Stadt fotografiert. Los Angeles ist eben kein Film-Set, sondern erscheint eher als ein chaotisches Konglomerat aus Flächen, Materialien und Strukturen. Abblätternde Farben und bröselnde Putzschichten vor Palmenkulisse: Der amerikanische Traum scheint geplatzt, die Traumstadt ist zum depressiven Albtraum verkommen. In diesem Bildband lässt es sich herrlich gruseln, wie der plötzliche Untergang der Zivilisation aussehen könnte. Dem Fotografen ist das Kunststück gelungen, mit sehr gegenwärtigen Motiven einen Blick in die mögliche Zukunft zu werfen. Der Bildband ist eine feine Abfolge höchst delikat eingefangener Momente, die mit der nötigen Ironie die gesamte Dekadenz eines Lebensentwurfs vorführen.
Ganz am Ende des Bildbands im Magazinformat erhalten aber dann doch noch ein paar Bewohner das Wort. Auf rosa Papier berichten Dienstleister aus ihrem Berufsalltag: der Limousinen-Chauffeur Jorge, der Life Coach Dr. John, Julie Kay fliegt Polizeihubschrauber, Kim ist die Tochter einer Star-Stylistin und Tomas arbeitet als Paddle-Tennis-Trainer. In diesen Interviews scheinen sich alle Klischees der Stadt doch noch einmal zu verdichten. Und was für ein toller Coup, ausgerechnet Tom Kummer für die Texte zu verpflichtet zu haben. (Zur Erinnerung: der Schweizer Kolumnist löste im Jahr 2000 einen echten Medienskandal aus, als herauskam, dass seine Interviews mit Hollywoodgrößen zu großen Teilen auf Erfindungen beruhten.) Kein Wunder also, dass die hintersinnigen Interviews nun besser hätten nicht erfunden werden können. Wie kein anderer scheint Kummer die Menschen und die Bedingungen der Stadt und die „Kultur der Täuschung“ (wie es eine der Interviewten ausdrückt) zu kennen. Die Interviews bilden das Echo einer Lebensweise, die in den Bildmotiven schon Vergangenheit zu sein scheint. Welch ein herrlich bösartiges Vergnügen, Los Angeles durch das gnadenlose Kaleidoskop des Fotografen zu betrachten.
Christian Werner: Los Angeles
144 Seiten, 102 Farbabb., 33,0 x 23,0 cm, Deutsch
Korbinian-Verlag
mit Interviews von Tom Kummer
Christian Werner+-
Der Berliner Leica Fotograf Christian Werner (*1977) arbeitet für viele nationale und internationale Magazine wie das Zeit Magazin oder Numéro und Kunden wie SSENSE und 032c. Der Fokus seiner Arbeit liegt auf Langzeitprojekten, aus denen bereits mehrere Bücher entstanden sind: aktuell ist ebenfalls gerade das Buch Bonn. Atlantis der BRD erschienen (siehe dazu das LFI-Portfolio, Heft 3). Mehr