Analoge Therapie

Joep Hijwegen

28. Dezember 2023

Joep Hijwegen versteht es wie kein Zweiter, ästhetische Kompositionen in alltäglichen Straßensituationen zu finden. Das gelingt ihm bevorzugt mit der Leica SL und der Leica M9 – allerdings ist auch die Analogfotografie kein unbekanntes Terrain für ihn. 
LFI: Wie gehen Sie normalerweise vor, um Ihre Motive auf der Straße zu entdecken? Gibt es spezielle Techniken oder Routinen, die Sie anwenden?
Joep Hijwegen:
Ich versuche, bei der Auswahl und Bearbeitung sehr streng zu sein, aber völlig offen bei dem, was ich festhalte. Am Anfang halte ich meine Kamera einfach auf alles, was ich für schön, interessant oder beides halte. Das ist ein instinktiver Moment, aber dann versuche ich, ihn zu fokussieren. Ich finde meine Kompositionen, indem ich zunächst alles weglasse, was nicht wichtig ist, und dann das Offensichtliche abwandle, um mich dem Wesentlichen des Bildes zu nähern. Ich konzentriere mich immer zuerst auf das „Gefühl“. Meiner Meinung nach kann man eine Geschichte am besten erzählen, wenn man sich nicht darauf konzentriert, wie ein Moment oder ein Ort aussieht, sondern darauf, wie er sich anfühlt, und dann versucht, das einzufangen. Das bedeutet in der Regel, dass ich das Gezeigte abstrahiere und unkenntlich mache. Wenn die Geschichte sofort offensichtlich ist, werden die Betrachter sie für bare Münze nehmen. Ich möchte, dass sie etwas von sich selbst in einem Bild entdecken, es muss ein bunter Rorschachtest sein. Nicht der eigentliche Inhalt, sondern die Muster, Farben, Linien und Texturen sind das Wichtigste, damit Raum für die Wahrnehmung bleibt.

Wie beeinflussen die Eigenschaften der Leica R4 und der M3 Ihre Herangehensweise an die Komposition?
Wie bei meinen Digitalkameras (der M9 und der SL) bieten sie zwei unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen: Mit einem Messsucher erlebt man die Welt sehr direkt, aber man sieht nicht wirklich genau, was man bekommt. Mit einer Kamera, die durch das Objektiv misst, erhält man eine Vorschau, die bereits fotografisch und in gewisser Weise verzerrt ist. Mit dem Messsucher kann ich meinem Instinkt folgen und die Dinge fast unbewusst erfassen. Ich glaube nicht an „glückliche Zufälle“: Ich glaube, wir trauen unserem Unterbewusstsein manchmal zu wenig zu, und weniger Kontrolle ermöglicht es uns oft, Dinge zu entdecken, die wir schon immer festhalten wollten, es aber noch nicht wissen. Bei der R4/SL ist das Gegenteil der Fall: Was man sieht, ist das, was man bekommt. Das ermöglicht eine wirklich präzise Bildgestaltung, wenn man sie braucht und eine Vision hat, aber es erlaubt auch, die fotografische Welt in Echtzeit zu entdecken, anders zu sehen, als es unsere Augen erlauben. Beide haben ihre Berechtigung und bieten Inspiration und unterschiedliche Arbeitsabläufe.

Welche besonderen Herausforderungen oder Reize bieten analoge Kameras im Vergleich zu digitalen Kameras?
Ich finde es toll, dass man die Arbeit von den Ergebnissen trennen kann. Wenn ich mir einmal etwas unsicher hinsichtlich meiner Fotografie bin, ist es schwer, ein digitales Bild zu machen, weil man sofort sieht, wie „schlecht“ es ist. Beim Film schießt man und schießt und sieht erst später, was dabei herauskommt. Das ist für mich therapeutisch. Ich mache selten meine besten Arbeiten auf Film, aber er erlaubt mir, meinen Perfektionismus zu überwinden und einfach eine Zeit lang ohne sofortiges Feedback zu arbeiten.
Katja Hübner, Danilo Rößger
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Joep Hijwegen
EQUIPMENT: Leica R4, Leica M3, Summicron-R 1:2/35, Summicron-R 1:2/50 Asph, Summicron-M 1:2/50, Elmarit-R 1:2.8/90

LFI 1.2024+-

Joep Hijwegens Projekt Blue Hours finden Sie im LFI Magazin 1.2024. Mehr

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JoepProfile_L1832967 © Joep Hijwegen
© Joep Hijwegen

Joep Hijwegen ist ein Street Photographer aus Amsterdam, dessen künstlerische Werke einer Stadt durch Spiegelungen und Silhouetten beeindrucken. Er hat mehrere Fotopreise gewonnen und seine Arbeiten in Ausstellungen wie Haute Photographie, PAN Amsterdam oder in der Galerie Kahmann präsentiert. Zudem wurden seine Bilder in nationalen und internationalen Zeitungen und Zeitschriften wie Parool, Volkskrant, Digital Photographer oder ZEIT Magazin publiziert. Hijwegen hat zwei Fotobücher veröffentlicht: Controlled Coincidence und Blue Hours. Mehr

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