Abenteuer einer Leica-Kamera

Gunther Walker

9. Mai 2023

Gunther Walker erzählt die abenteuerliche Geschichte einer Leica-Kamera, die beinahe 100 Jahre alt ist und während des Zweiten Weltkriegs sogar eine kurze Zeit lang unter der Erde verweilte.
„Im Herbst 1932 hat mein Opa Alfred Bosler eine Leica-Kamera neu gekauft, nachdem er seine erste Lehrerstelle angetreten hatte. Als leidenschaftlicher Fotograf dokumentierte er sein Leben wie viele andere auch; es entstanden Fotos beim Skifahren, während Bergtouren oder einer Dampfschiffreise nach Norwegen, bei seiner Hochzeit, der anschließenden Hochzeitsreise sowie im Kreise der Familie.

Im September 1939 wurde er als Reservist einberufen und musste in den Krieg. Nachdem er den Feldzug im Westen überstanden hatte, wurde seine Tochter – meine Mutter – im August 1940 geboren. Der Urlaub und der Beginn ihres Lebens wurden fotografiert, die Militärzeit auch.

Im Juni 1941 wurde Opa mit seiner Division nach Russland versetzt. Die Leica blieb in der Heimat, und Fotos wurden in Feldpostbriefen von seiner Frau an die Front geschickt. Opa kam nie wieder nach Hause. Am 8.5.42 ist er bei einem Stoßtruppunternehmen in Russland gefallen.

Die Leica allerdings lebte durch meine Oma, Elfriede Bosler (1912–1999), weiter. Sie hat während des Krieges weiter fotografiert. Im April 1945, als die Amerikaner in das Städtchen Kirchberg an der Jagst eingerückt sind, mussten alle Fotoapparate sofort abgegeben werden. Da Oma die geliebte Leica ihres toten Mannes nicht übergeben wollte, entschloss sie sich, das Gerät gemeinsam mit anderen Wertsachen auf einem Acker außerhalb der Stadtmauer zu vergraben. Erst als die amerikanische Einheit im November 1945 weitergezogen ist, konnte meine Oma die Wertsachen wieder ausgraben.

Die Leica wurde als Familienkamera nach dem Krieg häufig benutzt, bis in die 1970er-Jahre hinein. Das letzte Bild, das wir besitzen, wurde am 17.5.74 bei meinem fünften Geburtstag aufgenommen. Danach ruhte die Leica für 45 Jahre in einer Schublade.

Im Mai 2019 schenkte mir meine Mutter schließlich die Leica zu meinem 50. Geburtstag. Nach so vielen Jahren ohne Einsatz musste die Kamera inklusive des Objektivs einer intensiven Überprüfung unterzogen werden. Danach war sie wieder am Leben!

Die Fotografie mit der Leica erweckte in mir das Interesse für die Analogfotografie. Genauso wichtig war die Möglichkeit, ein neues Verhältnis zu meinen Großeltern zu begründen, die durch diese Kamera immer bei mir sind. Mein Verhältnis zur Leica entwickelt sich immer weiter; sie ist meine ständige Begleiterin bei meinen vielen Wanderungen im Peak District, England, wo ich wohne.“
Text: © Gunther Walker

Gunther Walker+-

GuntherWalker
© Gunther Walker

Wurde 1969 als Sohn eines englischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren und wuchs mit zwei Kulturen und Sprachen auf. Er lernte zunächst Fotografie in der Schule, schlug dann aber einen musikalischen Weg ein und machte 1998 seinen Abschluss in Commercial Music an der University of Westminster. Seitdem arbeitet er in der Musikindustrie und leitet Bands, Komponisten und Plattenproduzenten. Nach umfangreichen Recherchen zu seiner deutschen Familiengeschichte hat ihm die Leica seines Großvaters einen neuen, längst vergessenen kreativen Weg eröffnet. Mehr

1/10
1/10

Abenteuer einer Leica-Kamera

Gunther Walker