Buch des Monats: Verweilter Augenblick

Hansgert Lambers

16. September 2022

Straßenfotografien aus über sieben Jahrzehnten: Ein Bildband gibt Einblick in das Lebenswerk des Leica-Fotografen.
Wer die Fotografien von Hansgert Lambers bisher noch nicht wahrgenommen oder die Ausstellung im Sommer dieses Jahres in Berlin verpasst hat, erhält mit der umfangreichen Monografie der Fotohof edition die Chance, ein Lebenswerk zu entdecken. Und der Betrachter wird umso mehr staunen, warum dieser großartige Fotograf noch immer ein wenig unter dem Radar der Fotogeschichte läuft. Zwar hat Hansgert Lambers einige feine Bildbände in seinem eigenen ex pose verlag veröffentlicht, allerdings nur in Kleinstauflagen. Immerhin fotografiert er seit über sieben Jahrzehnten, und doch beschreibt er sich selbst im typischen Understatement gern als „Liebhaber der Fotografie“ – nicht nur als Fotograf, sondern eben auch als Verleger und Rezensent.

Dass sein Werk noch immer als Entdeckung gilt, liegt sicher auch daran, dass Lambers nie von seinen Fotografien leben musste. Nach einem Ingenieurstudium war er sein gesamtes Erwerbsleben bis 1993 bei IBM beschäftigt. Mit umso größerer Leidenschaft widmete er sich in seiner Freizeit und nicht zuletzt bei vielen beruflichen Reisen der Fotografie. So ist ein Lebenswerk entstanden, das nun in sorgfältig ausgewählten Ausschnitten in dem Bildband vorgestellt wird. Immer in Schwarzweiß und mit einer Leica fotografiert. Lambers’ erste Leica war 1956 eine M3; später tauschte er sie gegen eine M4, und dann folgte eine M6, die er bis heute nutzt.

Das Schwarzweiß passt zu seiner Art, die Plätze und Straßen in den europäischen Städten festzuhalten. Vor allem aber interessierten ihn die Menschen, denen er bei seinen Streifzügen begegnete. Die Aufnahmen bezeugen seine Fähigkeit und Könnerschaft, aus kurzen flüchtigen Begegnungen zeitlose Bilder entstehen zu lassen – so wurde eben aus jedem „verweilten Augenblick“ ein Motiv, das auch noch Jahrzehnte nach der Aufnahme den Betrachter zum genauen Schauen animieren kann. Paris, London, Bologna, Wien, Brno, Bratislava, Bukarest, Istanbul, häufig Ostrava, vor allem aber immer wieder Berlin – das Westberlin der Nachkriegszeit, noch bis weit in die 1980er-Jahre gezeichnet mit allen Spuren des Krieges, aber auch fotografische Erkundungen in den Ostteil der Stadt. Die Liste der besuchten Städte lässt sich beliebig erweitern, doch immer ist es der aufmerksame Blick des Fotografen, dem es gelingt, Passanten, spielende Kinder, selbstvergessene Flaneure oder aber skurrile Situationen und absurd-witzige, aber auch melancholische Momente einzufangen.
Seine Stadt- und Straßenaufnahmen leben von ihrer erzählerischen Qualität, sind längst dokumentarische Erinnerungen an die Atmosphäre vergangener Jahrzehnte, auch an längst renovierte oder abgeräumte Bauwerke. Und sie erzählen viel vom Verhalten der Menschen: Aus den Bildern spricht ein sensibler Soziologe nicht nur von den Moden und Posen der Zeit, sondern auch vom Verhalten urbaner Gemeinschaften. Auch in der vermeintlich banalsten Alltäglichkeit hat Lambers sicher seine spannenden fotografischen Momente gefunden. Ein wahrer Bilderschatz. (Ulrich Rüter)

Hansgert Lambers: Verweilter Augenblick/Lingering Moment
Hrsg. von Matthias Reichelt, mit Texten von Irene Bazinger, Ian Jeffrey, Matthias Reichelt.
334 Seiten, 215 Schwarzweißabbildungen, 25 × 21,3 cm
Deutsch/Englisch
Fotohof edition

Alle Bilder auf dieser Seite: © Hansgert Lambers
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 (c) Matthias Reichelt
© Matthias Reichelt

1937 in Hannover geboren; ab 1957 Ingenieurstudium in Berlin, danach von 1965 bis 1993 als Systemberater bei IBM tätig, davon sechs Jahre in Osteuropa. 1986 Gründung des ex pose verlags, der sich insbesondere der Autorenfotografie widmet. Lambers lebt in Berlin. Die bis August 2022 im Haus am Kleistpark in Berlin gezeigte Ausstellung soll weitere Stationen erhalten. Mehr

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