Seduced and Abandoned

Tomaso Clavarino

10. September 2020

Tomaso Clavarino spricht über sein Fotoprojekt, das sich mit den Hinterlassenschaften des alpinen Tourismus beschäftigt.
Ab den 1960er-Jahren sorgte zunehmender Wohlstand für einen riesigen Ski-Boom, der die italienischen Alpen in eine Art Spielplatz für Touristen verwandelte. Aber Klimawandel, Fehlinvestitionen und rückläufige Skifahrer-Zahlen haben dieses Modell untergraben und einen Friedhof aus Stahlseilen, Beton, Parkplätzen, aufgegebenen Hotels und abgeholzten Pisten hinterlassen. Seduced and Abandoned befasst sich mit einem nicht mehr tragfähigen Tourismusmodell, dem Erbe des alpinen Tourismus und dem Leben der Menschen, die diese vergessenen Orte nicht verlassen wollen.

LFI: Haben Sie zu diesem Thema eine persönliche Beziehung?
Tomaso Clavarino:Obwohl ich in der Stadt lebe, war ich immer gern in den Bergen, vor allem in den Alpen. Ich habe als Dreijähriger mit dem Skifahren begonnen, dann mit dem Bergsteigen, Klettern und so weiter. Es ist eine Umgebung, in der ich mich sehr gut auskenne, und ich habe gesehen, wie sie sich im Laufe der Jahre verändert hat. Viele kleine Skigebiete haben geschlossen, die Branche hat sich verändert und die Auswirkungen des Klimawandels sind in den Alpen noch sichtbarer als anderswo. In der Vergangenheit habe ich oft im Ausland gearbeitet, aber in den letzten Jahren versuche ich, meine Projekte und meine Arbeit auf Themen zu konzentrieren, die mir näher liegen – und der Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Alpen ist natürlich ein Thema, das mich sehr berührt.

Sie scheinen sich generell häufig mit gesellschaftlich relevanten Themen zu beschäftigen…
Ich arbeite gerne an Themen, die uns zum Nachdenken anregen und Fragen aufwerfen. Vor einigen Jahren begann ich als klassischer Fotoreporter zu arbeiten, wobei ich mich auf Konflikte und Menschenrechte konzentrierte, aber dann merkte ich, dass ich eher daran interessiert war, umfassende Projekte mit einem eher autorenorientierten Ansatz zu verfolgen und mich dabei in gewisser Weise vom klassischen Kanon des Fotojournalismus zu entfernen. Dabei geht es mir vor allem um Themen, die für unsere derzeitige Gesellschaft von Relevanz sein können.

Wie würden Sie Ihren fotografischen Stil beschreiben?
Das ist eine schwierige Frage! Meine Wurzeln liegen im Fotojournalismus. Aber meine Praxis verändert und entwickelt sich ständig weiter. Ich hoffe, dass das noch viele Jahre so bleiben wird, denn ich arbeite wirklich gern als Fotograf mit der Freiheit, meine Praxis und meinen fotografischen Stil den verschiedenen Themen, an denen ich arbeite, entsprechend zu gestalten. Es geht ums Experimentieren, Lernen, und auch darum, Fehler zu machen und zu scheitern. Um also auf Ihre Frage zurückzukommen, sage ich, dass ich ein „klassischer“ Dokumentarfotograf bin, mit einem geradlinigen, sauberen und in gewisser Weise auch zarten Stil. Natürlich gibt es Einflüsse, die von italienischen Meistern bis zu zeitgenössischen Fotografen reichen. Ich möchte aber immer meine persönliche Sichtweise wiedergeben und meine eigene Erzählung aufbauen – so frei und mit so wenig mentalen und stilistischen Barrieren wie möglich.

Was sind Ihre nächsten Projekte?
Im Moment arbeite ich an zwei Büchern und mehreren Ausstellungen. Das erste Buch geht auf das Projekt Ballad of Woods and Wounds zurück, das ich während des Lockdowns entwickelt habe, es soll Mitte September erscheinen. Es gibt einen Dialog zwischen den Bildern eines jungen italienischen Illustrators, Patrizio Anastasi, und meinen Fotos wider. Das andere, viel komplexere, beruht auf meinem vierjährigen Projekt Padanistan, einer persönlichen Reise durch die norditalienische Provinz. Es wird 2021 unter anderem beim Fotofestival Cortona on the Move als Gewinner des jährlichen Open Calls ausgestellt werden. Ich hoffe, dass wir das Buch bis zum nächsten Frühjahr veröffentlichen können. Im Moment konzentriere ich mich mehr auf Arbeiten und Projekte für Festivals, Museen und Veranstaltungsorte, aber natürlich werde ich auch weiterhin für Zeitschriften tätig sein, trotz der Unsicherheit der globalen Situation derzeit und der Einschränkungen des Reisens. (Interview: Denise Klink)

Alle Bilder auf dieser Seite: © Tomaso Clavarino
Equipment: Leica M-P mit Summicron-M 1:2/35, Summicron-M 1:1.4/50, APO-Summicron-M 1:2/90
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Tomaso Clavarino

Tomaso Clavarino+-

Tomaso Clavarino, geboren 1986, ist Fotograf und Regisseur und lebt in Italien. Seine Arbeiten wurden von verschiedenen Zeitungen, Magazinen und Medien wie Vogue, Newsweek, The New York Times, Der Spiegel, Vice, Vanity Fair und anderen veröffentlicht. Parallel zu seinen Arbeiten für die Medien verfolgt er auch persönlichere und intimere Projekte, die in Galerien, Institutionen wie dem Europäischen Parlament und auf großen Festivals weltweit ausgestellt und gezeigt wurden. Im Laufe seiner Karriere hat er mehrere Stipendien von Stiftungen wie dem Pulitzer Center und dem European Journalism Center/Bill&Melinda Gates Foundation erhalten und arbeitet mit Institutionen und Museen zusammen. Er ist Co-Kurator von JEST, Independent Space for Photography in Turin, und Professor am Istituto Europeo di Design. Mehr

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