Der Bruderkuss

Barbara Klemm

27. Dezember 2019

Barbara Klemm gelang am 7. Oktober 1979 in Ost-Berlin ein Bild, das Geschichte geschrieben hat: Der Bruderkuss. Heute eine bildjournalistische Ikone, gleichwohl der Kontext fast vergessen ist.
Vielleicht muss man dieses Bild in einigen Jahren ganz anders erklären, denn wer wird dann noch Erich Honecker oder Leonid Breschnew geschweige ihre politische Entourage erkennen? Zwei Männer, die sich in seriöser Kleidung öffentlich und offenbar leidenschaftlich mit geschlossenen Augen küssen: doch dieses Motiv ist kein Symbol der Liberalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften gesetzter Herren, sondern ein historisches Bild, das anlässlich eines Empfangs während der Feiern zum 30. Jahrestag der DDR entstand und die besondere Verbundenheit innerhalb des sozialistischen Systems zum Ausdruck bringen sollte.

Viele Bildjournalisten fotografierten diese Szene, doch Barbara Klemm verzichtete auf eine Nahaufnahme: „Mich interessiert bei solchen Anlässen mehr die Szene, in der die Personen agieren. Im ersten Moment ist sicher das Detail stärker. Aber wenn Sie mein Bild noch einmal betrachten, dann sehen Sie rechts im Hintergrund auch den damaligen Außenminister der Sowjetunion, Gromyko, und Tschernjenko - den späteren Nachfolger von Breschnew. Anders als das klatschende Politbüro interessieren sie sich überhaupt nicht für den Kuss, sondern unterhalten sich.“ Herausgestellt wird bei Klemms Aufnahme insbesondere das steife, formalisierte Ritual der Funktionärs-Altherrenriege. Auch dies ein Bild, das längst von der Geschichte überholt wurde.

Größere Aufmerksamkeit sollte das Motiv dann Jahre später auf der Berliner East-Side-Gallery auf dem erhaltenen Teilstück der ehemaligen Mauer erhalten. Als Vorlage für das Gemälde von Dimitri Wrubel diente allerdings die Aufnahme des französischen Bildjournalisten Régis Bossu. Er stand zum Aufnahmezeitpunkt ebenfalls im Pressepulk im Schloss Niederschönhausen und fotografierte die gleiche Szene, doch als Close-Up.

Barbara Klemm hat in ihrer Tätigkeit für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, für die sie über vier Jahrzehnte tätig war, viele ikonische Bilder der Politik- und Gesellschaftsgeschichte geschaffen. Am 27. Dezember feiert sie ihren 80. Geburtstag. Wir gratulieren. 

Das aktuelle LFI-Magazin präsentiert eine Auswahl ihrer Arbeiten.

Noch bis zum 1. März 2020 präsentiert das Leonhardi Museum Dresden die Ausstellung Barbara Klemm, Osten, Bilder aus Osteuropa und der DDR.
Ulrich Rüter
Foto: © Barbara Klemm

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© Gustav Eckart

Geboren am 27. Dezember 1939 in Münster/Westfalen; wuchs in einer Künstlerfamilie auf, ihr Vater Fritz war Professor an der Karlsruher Kunstakademie. Durch ihn erste fotografische Erfahrungen. Bis 1958 Fotografenlehre in einem Porträtatelier bei Julie Bauer in Karlsruhe. Ab 1959 im Fotolabor der FAZ, erste Arbeiten als freie Mitarbeiterin wurden publiziert, von 1970 bis 2005 festangestellte Redaktionsfotografin für Politik und Feuilleton. Auszeichnungen u. a.: Dr.-Erich-Salomon-Preis für Photographie, Hessischer Kulturpreis, Max-Beckmann-Preis der Stadt Frankfurt a. M., Leica Hall of Fame Award 2012. Barbara Klemm lebt in Frankfurt am Main. Mehr

 

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