Jem Goulding – 100 Türen

Jem Goulding

31. Dezember 2014

Das ultraorthodoxe Judentum wird von den Medien oft als konservative und verschlossene Gemeinschaft dargestellt. Mea Shearim, eines der ältesten Stadtviertel Jerusalems, ist Hochburg der streng orthodoxen Auslegung des Glaubens und zugleich ein schwieriges Pflaster für Fotografen – besonders wenn sie weiblich und nicht religiös sind. Ein Interview mit der Fotografin Jem Goulding über ihr Projekt innerhalb einer eingeschworenen Gemeinde.
Das ultraorthodoxe Judentum wird von den Medien oft als konservative und verschlossene Gemeinschaft dargestellt. Mea Shearim, eines der ältesten Stadtviertel Jerusalems, ist Hochburg der streng orthodoxen Auslegung des Glaubens und zugleich ein schwieriges Pflaster für Fotografen – besonders wenn sie weiblich und nicht religiös sind. Ein Interview mit der Fotografin Jem Goulding über ihr Projekt innerhalb einer eingeschworenen Gemeinde.


Das ultraorthodoxe Judentum ist für seine Verschlossenheit bekannt und entsprechend schwer sind seine Angehörigen zu fotografieren. Was hat dich motiviert, dennoch vor Ort Porträts aufzunehmen?

Um ehrlich zu sein, habe ich nur aus Spaß mit der Serie begonnen. Meine einzig wahre Motivation war, dass es verboten sein sollte, dort zu fotografieren, oder es zumindest nie getan wird. Die Forscherin und Künstlerin in mir wird da neugierig. Ich tue mich schwer mit Verboten und Autoritäten. Wenn mir also gesagt wird, dass etwas unmöglich sei, werde ich es höchstwahrscheinlich versuchen. Mit Mea Shearim (hebräisch für „100 Türen“) war es genauso, für mich als nichtreligiöse Frau sollte der Stadtteil angeblich Sperrgebiet sein.
Die fundamentalistische Auslegung von Religion finde ich genauso beunruhigend wie faszinierend, weniger wegen des eigentlichen Glaubens, als wegen der Feindseligkeit, die ich zwischen den Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen spüre. Mit meinen Aufnahmen wollte ich mich von Religion und der Politik, die meist dahinter steckt, distanzieren, und auf die anthropologischen und soziologischen Aspekte aufmerksam machen. Diese Bilder haben weniger mit Israel zu tun als mit der Intersubjektivität, die von Gruppen ausgeht und ihre Mitglieder generalisiert. Als ich meine ersten zwei, drei Porträts gemacht hatte, sah ich darin die Möglichkeit, das ultraorthodoxe Judentum zu entmystifizieren.


Gab es Schwierigkeiten während deinem Projekt? Oder konntest du einfacher fotografieren als erwartet?

Jeder Tag war anders, also von beidem etwas. Die meisten Menschen, die ich fotografieren wollte, haben höflich abgelehnt. Besonders Frauen, sodass meine Serie jetzt zu 100 Prozent aus Porträts von jungen Männern besteht. Insgesamt erinnere ich mich nur an zwei oder drei Momente, in denen ich unhöflich abgewiesen wurde. Einmal bewarf mich sogar eine ältere Dame mit Abfall. Viele der Jungs liefen einfach davon, wenn ich mich ihnen näherte. In diesen Momenten fühlte ich mich schuldig, aber nach einiger Zeit hatte ich ein Gespür dafür entwickelt, von wem ich mein Porträt bekommen würde und von wem nicht. Aber von den 20 bis 25 Jungen die ich pro Tag ansprach, stimmten dennoch nur eine Hand voll zu. Ich musste also auch lernen, mit Abweisungen umzugehen. Die größte Schwierigkeit war aber die Zeit. Es schien, als sei jeder Mensch auf den Straßen in Eile. Meist hatte ich nur die Möglichkeit, ein oder zwei Bilder von jedem zu machen, wenn ich mehr wollte, wendeten sich die meisten ab und gingen.


Hattest du das Gefühl, als Frau damit eine Grenze zu übertreten, dass du Männer einer so strengen Gesellschaft fotografieren wolltest?

Ja, total. Ich war mir bewusst, dass ich damit eine „Grenze“ übertrete, aber genau diese „Grenze“ war es, die mich zu der Arbeit an diesem Projekt inspirierte. Ich denke, dass es an der Zeit war, diese „Grenze“ zu überschreiten und ich bin froh einige Bilder zu haben, die nicht an sozialen Etiketten festhalten und die die Interaktion zwischen Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Orientierung symbolisieren. Über das ultraorthodoxe Judentum wird viel in den Medien gesprochen, aber ihr fehlte die menschliche Seite. Mir ist aufgefallen, dass alle veröffentlichten Bilder der Gemeinschaft auf gewisse Art und Weise gestohlen oder verboten wirken; meine Idee war es, Menschen mit deren Einverständnis zu fotografieren und ihnen so eine Chance zu geben, ihre Wahrnehmung in der Welt aktiv mitzugestalten. Die Männer die sich die Zeit für ein Foto nahmen, waren genauso verwundert über mich, wie ich über sie. Das Projekt ist also zu gleichen Teilen ein Sozialexperiment wie eine Reportage.
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Jem Goulding

Jem Goulding+-

Jem Goulding studierte Medienwissenschaften am Goldsmith College in London. Neben ihren weltweit publizierten journalistischen Artikeln ist Goulding auch Autorin lyrischer Dichtkunst. Hauptberuflich ist die Künstlerin zudem Filmemacherin und Fotografin. Ihre Bilder veröffentlichte sie in Magazinen wie i-D oder The Guardian. Mehr

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