Zauber-Berg

Alejandro Cegarra

24. Mai 2016

LFI 4/2016 zeigt Alejandro Cegarras Reportage Zauber-Berg über den María-Lionza-Kult. Wir sprachen mit dem jungen venezolanischen Fotografen, Gewinner des Oskar Barnack Nachwuchspreises 2014, über seine fotografische Arbeit.
LFI 4/2016 zeigt Alejandro Cegarras Reportage Zauber-Berg über den María-Lionza-Kult, den zu zelebrieren alljährlich im Oktober Tausende Venezolaner zum Berg Sorte im Norden des südamerikanischen Landes pilgern, um Kontakt zu den Geistern aufzunehmen und schamanische Heilungsrituale zu begehen. Wir sprachen mit dem jungen venezolanischen Fotografen, Gewinner des Oskar Barnack Nachwuchspreises 2014, über seine fotografische Arbeit.


Was bedeutet Ihrer Ansicht nach der María-Lionza-Kult im Kontext des religiös-spirituellen Lebens in Ihrem Land?

Ich denke, angesichts der ökonomischen Krise in Venezuela suchen die Leute in der Religion nach Antworten, nach spiritueller Orientierung, und auch nach Frieden in einer Gesellschaft, die keinen Frieden kennt. Religion bietet ihnen einen Ausweg. Ein Santero oder eine Santera zu sein ist allerdings nicht gut angesehen.


Inwiefern? Der Kult ist doch eine der am stärksten wachsenden spirituellen Bewegungen Lateinamerikas?

Ja, schon, aber Venezuela ist ein katholisches Land, und die katholische Kirche lehnt die Santería ab, hält sie für Sünde. Wichtig für die Leute ist aber vor allem die Heiler-Rolle der Santeros, und das hängt wiederum mit der ökonomischen Misere zusammen – das öffentliche Gesundheitswesen ist schlecht ausgestattet, und Privatkliniken wiederum kann sich kaum jemand leisten.


Was hat Sie besonders beeindruckt dort am Berg?

Ich habe beobachtet, wie sich Leute beträchtliche Wunden beigebracht haben, als sie in Trance waren – von denen am nächsten Tag keine Spur mehr zu sehen war. Und einmal sprach mich jemand, den ich nie zuvor gesehen hatte, mit den Worten an: „Alejandro, long time without speak“. Und zwar tatsächlich auf Englisch. Das war schon, wie soll ich sagen, beängstigend.


Was haben Sie danach gemacht?

Naja, ich habe einfach weiter fotografiert, war sehr still dabei und versuchte irgendwie zu verstehen, was da gerade passiert war.


Auf Ihrer Website nennen Sie die Reportage vom Berg Sorte ein „ongoing project“. Sie wollen noch mal dorthin?

Ich muss noch mal dorthin, mehr sehen, versuchen, mehr zu begreifen. Der Berg hinterließ in mir mehr Fragen, als ich Antworten bekommen habe. Davon abgesehen: Beim letzten Mal hatte ich tatsächlich nur ein Akku dabei, musste mich fotografisch also etwas beschränken.

Ihre Reportage über den Torre de David in Caracas, einen leer stehenden Turm, der zum Zuhause für Tausende illegaler Bewohner wurde, brachte Ihnen den Oskar Barnack Nachwuchspreis 2014 ein. Im gleichen Jahr hat die Regierung die Turmbewohner umzusiedeln begonnen. Dieser Aktion haben Sie ebenfalls eine Reportage gewidmet.

Ich wollte in beiden Serien vor allem zeigen, dass diese Leute keine Kriminellen sind oder sonst irgendwie zweifelhafte Personen, und dass das Leben schön sein kann an den unwahrscheinlichsten Orten. Was die Regierung mit der Umsiedlung gemacht hat, erschien mir nicht gerade als wohldurchdachte, ehrliche Politik.


Sie wuchsen auf in der Ära Hugo Chávez, der wohl einer der schillerndsten politischen Führer in Lateinamerika war – der einerseits Venezuelas Öleinnahmen für ausgedehnte Wohlfahrtsprogramme einsetzte, andererseits einen paternalistischen Personenkult errichtete, der vor allem der autokratischen Herrschaftssicherung diente. Eines Ihrer laufenden Projekte heißt Chávez’ Erbe, und bei vielen Bildern gewinnt man den Eindruck, dass sie um den Aspekt Gewalt kreisen. Sehen Sie so Chavez’ Hinterlassenschaft?

Gewalt ist irgendwie sehr tief eingedrungen in die Poren der venezolanischen Gesellschaft. Ökonomische Gewalt, Polizeigewalt, Straßenkämpfe, Kriminalität und so weiter. Manchmal fühlt es sich an, als lebten wir inmitten eines unerklärten Krieges. Chávez Tod hat ein Vakuum in so vielen Bereichen hinterlassen, und es fehlen die Regeln, dieses Vakuum auszufüllen.


Nicht nur durch den Oskar Barnack Nachwuchspreis haben Sie mit Ihrer Arbeit viel Aufmerksamkeit geerntet. Beispielsweise gehörten Sie auch zur Auswahl der 30 under 30 Magnum Photos 2014. Heute sind Sie featured photographer bei Getty Reportage. Das ist ein ziemlicher Erfolg für jemanden, der erst 2012 beschlossen hat, Fotografie zum Beruf zu machen. Wie geht es weiter?

Ich habe keine konkreten Pläne. Ich hatte mir schon einige Ziele gesetzt, als ich anfing, aber hätte nie für möglich gehalten, dahin zu kommen, wo ich jetzt bin. Vielleicht könnte man es so sagen: Ich will einfach weiter neugierig bleiben, nicht die Fähigkeit verlieren, mich in Erstaunen versetzen zu lassen, weiter nach Geschichten suchen, die unterhalb der allgemeinen Aufmerksamkeitsschwelle darauf warten, entdeckt zu werden. Ein Augenzeuge sein, der der Welt zeigt, was um mich herum geschieht.


Wie schaffen Sie es, die enge Beziehung zu Ihren Protagonisten herzustellen, die aus Ihren Bildern spricht?

Ich bemühe mich grundsätzlich, erst einmal das Vertrauen der Leute zu gewinnen, bevor ich überhaupt ans Bildermachen denke. Selbst dann, wenn die Umstände schnelles Agieren verlangen, versuche ich zumindest Augenkontakt herzustellen, irgendeine Art von Einverständnis zu erlangen, dass ich mit meiner Kamera dort sein und bleiben kann. Das hat mir schon mehr Türen geöffnet, als man sich vorstellen kann.


In der Regel sind Ihre Bilder schwarzweiß. Wieso?

Die Frage könnte auch lauten: Warum sprechen Sie Spanisch? Schwarzweiß ist meine fotografische Muttersprache. Das ist schwer zu erklären – ich scherze da manchmal, dass ich eben farbenblind sei.


Welche Fotografen schätzen Sie besonders?

Javier Arcenillas, Tomas Munitá, Mauricio Lima, Paolo Marchetti, Matt Black, um ein paar zu nennen. Dann natürlich James Nachtwey und Sebastião Salgado. Und wen ich außerordentlich verehre, das ist Nancy Borowick.


Wie kommen Sie, ganz allgemein, zu Ihren Themen? Gibt es da auch biografische Bezüge hin und wieder?

Was macht mich wütend? Was bewegt mich? Das sind so die hauptsächlichen Kriterien. Ich will Missstände aufzeigen, aber ich will auch begreifen lernen, was ich nicht verstehe. Es ist ein Prozess, der auf Erkenntnis zielt, und ich verstehe die Fotografie dabei als eine Verpflichtung. Wie meine Eltern mich erzogen haben, ist dabei schon sehr wichtig, meine Mutter und mein Vater sind engagierte Linke mit starker Sensibilität für soziale Ungerechtigkeiten. Das hat mich geprägt, und ich will ihnen an dieser Stelle dafür danke sagen.
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Alejandro Cegarra

Alejandro Cegarra+-

Alejandro Cegarra wurde 1989 in Caracas, Venezuela, geboren, die Stadt, die er immer noch als seine Heimat bezeichnet. Er studierte Fotografie im Roberto Mata Taller de Fotografia und Publizistik an der Universität Alejandro de Humboldt. 2014 wurde er als Newcomer beim Leica Oskar Barnack Award ausgezeichnet, er arbeitet für Associated Press, die „Washington Post“ und den „Stern“. Seine Bilder wurden unter anderem auch in der „New York Times“ und „Time“ veröffentlicht. Mehr

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