Lyubov

Elena Chernyshova

3. Januar 2022

„Lyubov Nikolaevna ist eine erstaunlich starke Frau mit Augen in der Farbe des Baikalsees. Wenn man in sie blickt, ist es, als würde man in die Tiefen des Sees eintauchen und ihre Liebe und starke Verbindung zum Baikalsee spüren.“
„Lyubov Nikolaevna wurde am Ufer des Baikalsees geboren. Ihr Studium absolvierte sie in Irkutsk, der Hauptstadt der gleichnamigen Region. Über 40 Jahre lang hat sie im größten Maschinenbaubetrieb der Region gearbeitet. Nach ihrer Pensionierung kehrte sie an den Ort ihrer Kindheit zurück und ließ die komfortablen Bedingungen der Stadt ohne großes Bedauern hinter sich. Ihr jetziges Haus hat kein fließendes Wasser, keine Zentralheizung, und zum nächsten Geschäft musste sie über oft unwegsame Straßen fahren. Elektrizität gibt es erst seit einigen Jahren. Jeden Tag geht sie die Steilküste zum Baikalsee hinunter, um Wasser für sich, die Kühe und den Haushalt zu holen. Im Winter haut sie selbst Löcher ins Eis und trägt einen Eimer nach dem anderen.

Seit ihrer Kindheit liebt sie das Schlittschuhlaufen. Es war nicht nur Spaß und Unterhaltung, sondern auch ein Transportmittel, mit dem man schnell zur Schule im Nachbardorf gelangen konnte. Lyubov Nikolaevna fährt weiterhin Schlittschuh – jeden Tag etwa zehn Kilometer, um nach ihren Kühen zu sehen, die am Ufer des Baikalsees grasen.

Wir trafen uns mit Lyubov am letzten Tag unserer Reise zum Baikalsee. Es stellte sich heraus, dass die Aktivisten, mit denen wir auf der Insel Olchon gesprochen hatten, sie gut kannten. Sie riefen sie an, und sie erklärte sich bereit, sich mit uns zu treffen. Gleichzeitig war es möglich, ihr Geschenke und Lebensmittel zu überbringen, da sie weit von den Geschäften entfernt wohnt und wegen der schlechten Straße fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten war.

Die Straße auf dem Weg zu ihr war durch riesige Erdhügel blockiert. Unser Fahrer versuchte, sie zu überfahren, aber am Ende hatte er einen Reifenschaden, und es war unmöglich weiterzufahren. Der Fahrer zeigte uns die ungefähre Richtung und gab uns Lyubovs Telefonnummer. Näher am Ufer würde sich dann Netzempfang ergeben. Die erste Stunde liefen wir an den Hügeln entlang, bis diese Hindernisse verschwanden und sich die eisige Oberfläche des Baikalsees von magischer Schönheit vor uns auftat. Es war viel leichter zu laufen, und wir begannen, uns dem Ufer schneller zu nähern. Von dem Haus war allerdings noch nichts zu sehen.
Plötzlich sahen wir eine zerbrechliche Gestalt, die sich uns schnell näherte. Das war sie! Sie glitt mit enormer Geschwindigkeit über das eisige Blau. In diesem Moment machte ich ein Foto von ihr.

Es stellte sich heraus, dass sie uns durch ein Fernglas vom Fenster ihres Hauses aus sah und erkannte, dass wir uns verirrt hatten. Lyubov Nikolaevna machte eine Schleife um uns herum und gab die Richtung an. Schließlich sahen wir, wo sich ihr kleines Haus an den Hang schmiegte. Dann eilte auch sie schnell ans Ufer und sagte, sie habe sich zu leicht angezogen und es sei für uns besser, im Haus auf sie zu warten. Draußen waren es weniger als 20 Grad unter Null.

Wir verbrachten mehrere Stunden im Gespräch mit dieser erstaunlichen Frau. Sie erzählte sehr poetisch von den verschiedenen Arten von Eis und Wind auf dem Baikalsee, erinnerte sich an Geschichten aus ihrer Kindheit, wie sie während eines Schneesturms, der unerwartet auf dem Rückweg von der Schule auf dem See losbrach, fast gestorben wäre, und zeigte uns ihr Gehöft.

Wir fuhren auch am See entlang zurück, zuerst über die magisch glatte Oberfläche des bodenlosen Eises, dann durch ein weiteres Hügelfeld. Unser Fahrer hatte wieder eine Reifenpanne. Erst spät am Abend kamen wir wieder in Irkutsk an.

Lyubov Nikolaevna hat diese Fotos von sich noch nicht gesehen. Ich hoffe, dass es möglich sein wird, ihr die Ausgabe des LFI Magazins mit der Veröffentlichung zu schicken.“

Erfahren Sie mehr über Elena Chernyshovas Fotoprojekt über den Baikalsee im LFI-Magazin 01/22.
Bild und Text: © Elena Chernyshova
EQUIPMENT: Leica SL-2 mit Vario-Elmarit-SL 1:2.8-4/24-90 Asph

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© Daria Lobanova

Als Autodidaktin entwickelte die russisch-französische Dokumentarfotografin ihre Leidenschaft während des Studiums an der Architekturakademie und einer dreijährigen Fahrradreise durch Eurasien. Fotografie ist für sie eine Möglichkeit, das Alltagsleben von Gruppen im Kontext ökologischer, politischer und wirtschaftlicher Veränderungen zu untersuchen. Sie veröffentlicht u. a. in National Geographic Russia, Geo und dem Stern. Mehr