Buch des Monats – Darcy Padilla: Family Love

17. Februar 2015

„Ich bin stolz auf das Buch. Stolz darauf, dass Editions de la Martinière so viel Interesse an Julys Geschichte hatte. Sie haben nicht nur einfach ein Buch herausgebracht, sondern die Chance ergriffen, ein Statement abzugeben.”
„Ich bin stolz auf das Buch. Stolz darauf, dass Editions de la Martinière so viel Interesse an Julys Geschichte hatte. Sie haben nicht nur einfach ein Buch herausgebracht, sondern die Chance ergriffen, ein Statement abzugeben. Für das Buch sichtete ich meine Negative, es waren Tausende. Dazu kamen Kisten voller Notizzettel, Zeitungen, Dokumente, aufgezeichneter Gespräche und Hunderter Stunden transkribierter Videos. Ich wollte die Geschichte auf zweierlei Weise erzählen, durch Bilder und Worte. Beides funktioniert als alleinstehende Geschichte oder auch als Teil eines größeren Gesamten. Das Buch endet mit einer E-Mail, die ich kurz vor der Druckabgabe des Buches erhielt, sie bekräftigt, dass diese über 21 Jahre geschriebene Geschichte nicht vergebens war.”


Der Vortrag ist unvergessen. Schüchtern tritt eine Fotografin vor ein Auditorium, um ihr Projekt vorzustellen. Sie beginnt und es ist, als würde das Publikum im selben Moment kollektiv den Atem anhalten. Niemand geht vorzeitig, obwohl man in der Dramaturgie der präsentierten Geschichte von Anfang an mit dem schlimmstmöglichen Ausgang rechnen muss und viele Bilder nur schwer aushaltbar sind. Am Ende wird so manche Träne verstohlen weggewischt.

The Julie Project hieß die Geschichte, die die Amerikanerin Darcy Padilla einst vorstellte. Jetzt ist diese endlich in einem schweren, nüchtern gestalteten Buch mit dem Titel Family Love erschienen. Mit Fug und Recht lässt sich hier von einem Langzeit-Projekt sprechen, es umfasst fast zwei Dekaden. Eine Arbeit, die weder auf den kruden Schock noch den rührseligen Moment setzt. An keiner Stelle Sensationshascherei und voyeuristisch wird es nie.

Darcy Padilla trifft die junge Julie Baird das erste Mal in der Lobby eines schäbigen Hotels in San Francisco. Eigentlich begleitet die damals 26jährige Fotografin eine Gruppe von Ärzten und Sozialarbeitern. Diese betreuen Menschen, die sich mit HIV infiziert haben und sich keine Versorgung leisten können. Julie ist eine von ihnen. 19 Jahre alt, sitzt sie barfüssig in der Lobby eines Hotels, hält einen Säugling im Arm, der acht Tage alt ist. Julie hat bereits ein Leben auf der Schattenseite hinter sich: die Mutter alkoholabhängig, Missbrauch durch den Stiefvater, sie läuft von zu Hause weg, ist mit 15 drogenabhängig, steckt sich mit HIV an und wird schwanger. Die Begegnung zwischen Julie und der Fotografin wird folgenschwer sein. 18 Jahre wird Darcy Padilla am Leben einer jungen Frau teilhaben, das von ständigem aufs und ab gekennzeichnet ist. Darcy Padilla hätte daraus eine Tragödie des Elends formen können, eine Geschichte über Armut, Drogen, Leid und Gewalt und das Versagen des Außenseiters in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie tut es nicht, es geht ihr um so viel mehr - Freundschaft, Vertrauen, Liebe, Abschied. Denn es erzählt auch über die Beziehung zweier grundverschiedener Frauen.

Padillas Engagement reicht weit über das der fotografischen Begleitung hinaus. Immer wieder kümmert sie sich um Julie, hält Kontakt zu ihr, hilft ihr bei den Behörden, bezahlt Rechnungen. Sie ist in Verbindung mit Julies Freunden, hilft, Julies leiblichen Vater zu finden und organisiert ein Treffen mit Julies Sohn Zach, der einst zwangsadoptiert wurde. Nach Julies Tod 2010 unterstützt sie deren jüngste Tochter, die jetzt in der Familie des Freundes sicher lebt.

Jeder stabilisierten Lebensperiode von Julie folgt ein Absturz. Unbedingt will sie die Versäumnisse der Eltern bei ihren eigenen Kindern vermeiden. Doch sie kommt von ihrer Drogensucht nie los, hat wenig Glück mit Männern. Sie lebt am Existenzminimum und muss dauernd umziehen. Sechs Kinder bringt sie zur Welt, von denen ihr fünf weggenommen werden. Einmal wird sie wegen Kindesentführung angeklagt, weil sie ein Kind vor der Behörde versteckt. Irgendwann geht sie von San Francisco nach Alaska, erlebt dort einige Momente einer Normalität, die ihr durch die unerbittliche Krankheit rasch abhanden kommt. Am Ende ist sie nur noch Haut und Knochen. Als sie stirbt, wird sie von ihrem Partner Jason und dem gemeinsamen Kind begleitet und von Darcy – als Fotografin und Freundin.

Das Buch fächert die ganze Geschichte von Julie auf. Es ist ausführlich und doch fragt man sich: wie passt diese unendliche Hölle, die ein einzelner Mensch durchlaufen muss, zwischen zwei Buchdeckel. Padilla fügt immer wieder Dialoge, Abschriften von Telefongesprächen, eigene Notizen ein, die Julies Geschichte erhellen. Letztlich ist Family Love ein erschüttendes Zeugnis der Menschlichkeit, zugleich die Geschichte einer schicksalhaften Begegnung von zwei sehr unterschiedlichen Menschen, die auch den Blick der Fotografin entscheidend erweitert. Die Bilder bekommt man nicht mehr aus dem Kopf. Wer keine Träne wegwischt, fühlt nichts mehr. Peter Lindhorst


Nachtrag: In dem Moment, in dem dieser Text entsteht, wird Darcy Padillas Arbeit bei WORLD PRESS PHOTO in der Kategorie „Langzeitprojekt” mit dem 1. Preis ausgezeichnet.


Darcy Padilla: Family Love
Editions de la Martinière
336 Seiten, Französisch,
62,00 Euro, www.editionsdelamartiniere.fr
1/5
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Buch des Monats – Darcy Padilla: Family Love