Carloz Javier Ortiz – We All We Got

Carlos Javier Ortiz

6. Januar 2015

„We All We Got“ beschreibt soziale Kontexte und Auswirkungen tödlicher Jugendgewalt in überwiegend schwarzen Wohnvierteln von Chicago und Philadelphia. Der Fotograf Carlos Javier Ortiz, 1975 in Puerto Rico geboren und aufgewachsen in Chicago, erfuhr diese Gewalt als Heranwachsender häufig selbst.
„We All We Got“ beschreibt soziale Kontexte und Auswirkungen tödlicher Jugendgewalt in überwiegend schwarzen Wohnvierteln von Chicago und Philadelphia. Der Fotograf Carlos Javier Ortiz, 1975 in Puerto Rico geboren und aufgewachsen in Chicago, erfuhr diese Gewalt als Heranwachsender häufig selbst. Zwischen 2006 und 2014 hat er in einem Langzeitprojekt die Familien von Opfern, aber auch Protagonisten von „Bandenkriegen“ und andere in die Geschehnisse Involvierte porträtiert und damit einen Aspekt der US-amerikanischen Alltagsrealität dokumentiert, der allzu oft reduziert bleibt auf namenlose Opferstatistiken und fast nie mediale Aufmerksamkeit erfährt – es ist gewissermaßen die grundierende Kehrseite der im vergangenen Jahr durch einige spektakuläre Fälle ins Gedächtnis gerufene Tatsache, dass schwarze Jugendliche in den USA mehr als 20-mal häufiger Opfer von Polizeigewalt werden als weiße; Ortiz’ Arbeit wirft ein Schlaglicht auf die Lebensumstände in den Neighbourhoods, unter denen die Mitgliedschaft in Gangs die Gratifikationen verheißt, die die US-Gesellschaft auf andere Weise zu erlangen strukturell verbaut – ein Umstand, der jedoch eine selbstzerstörerische Kraft entfaltet, dem die Menschen, die in diesen Vierteln zu leben verdammt sind, immer mehr mit Widerstand begegnen, im Namen der Menschlichkeit, im Namen ihrer Kinder.
Carlos Javier Ortiz ist Mitglied bei „Facing Change: Documenting America“, einer Gemeinschaft von Journalisten, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit ihren Themen und Geschichten ein umfassendes Bild der sozialen Wirklichkeit in den heutigen USA zu zeichnen und Debatten anzustoßen über die Ursachen gesellschaftlicher Konfliktlagen. Das Facing-Change-Projekt ist eine nichtkommerzielle Unternehmung, die auf Spenden angewiesen ist. Auch „We All We Got“ wurde als Schwarmfinanzierungsprojekt realisiert.


Sie haben fast neun Jahre an Ihrem Projekt gearbeitet. Was gab den Anstoß dazu?
Ich bin selbst aufgewachsen in einem Haushalt der unteren Mittelklasse in Chicago. Bewaffnete Auseinandersetzungen unter Gangs gehörten auch für mich zum Alltagsleben. In der Highschool hatte ich einen Klassenkameraden, der, um in eine Gang aufgenommen zu werden, einen Wachmann umbrachte. Jeden Tag nach der Schule gab es Kämpfe, zum Beispiel weil jemand sich nicht respektiert fühlte. Manche Schüler brachten zur Selbstverteidigung Waffen mit in die Schule. Es versteht sich von selbst, dass das für uns alle ein stressiges Dasein war. 2004 habe ich angefangen, das Thema fotografisch zu erkunden. Zu der Zeit lebte ich in Philadelphia und habe schnell gemerkt, dass es dort fast die gleichen Probleme gab wie zu Hause in Chicago. Als ich dann 2006 zurück nach Chicago ging, erlebte ich, wie ganz in meiner Nähe innerhalb von acht Tagen zwei Mädchen erschossen worden, Starkeisha, 14, und Siretha, 10, genannt „Nugget“. Das war für mich der Auslöser, dem Thema eine Langzeitdokumentation zu widmen, um herauszuarbeiten, was das Trauma des Verlusts ihrer Kinder durch Waffengewalt für die Familien, für die Nachbarschaften bedeutete.

Dass Kinder rein zufällig zu Opfern wurden, weil sie in die Schusslinie von mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikten rivalisierender Gangs geraten sind, haben Sie danach immer wieder erlebt. Deren Familien sind Sie im Zuge Ihrer Arbeit dann ziemlich nah gekommen. Wie ist Ihnen das gelungen, wie haben Sie ihnen Ihr Projekt erklärt, und welche Wirkung hatte Ihre Anwesenheit als Fotograf?
Mir ging es darum, die Lebensumstände der Leute zu erkunden, über den Moment der unmittelbaren Gewalterfahrung hinaus. Also habe ich immer wieder den Kontakt gesucht, und die Leute öffneten mir ihre Herzen und vertrauten mir ihre Geschichten an. Das war für mich eine Frage der persönlichen Integrität, sowohl ihre Trauer zu würdigen als auch Momente des Friedens und sogar der Freude im Verlauf der Zeit festzuhalten. So hoffe ich mit meiner Fotografie Aussagen über das Menschsein schlechthin, unter den Bedingungen existenzieller Grenzerfahrungen, machen zu können. Die größte Aufgabe war dabei, dafür Sorge zu tragen, dass ich meine Protagonisten in einer sowohl respektvollen als auch authentischen Weise darstelle.

Die Mutter der kurz vor ihrem elften Geburtstag erschossenen Siretha, genannt „Nugget“, hat bis zu deren 18. Geburtstag eine Art Party veranstaltet, fotografisch dokumentiert in Ihrem Buch. Wie haben Sie diesen Fall wahrgenommen?
Die Mutter von Nugget war eine der ersten, die mich wirklich nah an ihren Alltag heranließen. Sie wollte, dass ich den Leuten zeige, was ihre Familie in all der Zeit durchgemacht hat. Wie ihre Leben von dieser Tragödie geprägt wurden. Nachdem ich die Feier zu ihrem 18. Geburtstag fotografiert hatte, fühlte ich, dass es an der Zeit sei, all die Geschichten, die ich dokumentiert hatte, in einem Buch zusammenzufassen.

Die Bilder in „We All We Got“ sind nicht chronologisch angeordnet. Welche dramaturgische Absicht steckt dahinter?
Die Ordnung der Bilder ist nicht chronologisch, weil ich glaube, dass das Leben selbst diskontinuierlich verläuft.

Ein verstörender Aspekt, der in Ihren Bilder zutage tritt, ist ja, dass einerseits Empathie und Zusammenhalt spürbar werden, beispielsweise in den Ritualen des gemeinsamen Trauerns und Erinnerns, im Protestieren gegen das Töten, dass andererseits die Rituale der Straße, die in Gewalt münden, die im Grunde niemand will, mindestens ebenso wirkmächtig bleiben. Warum gelingt es grundsätzlich nicht, den Teufelskreis des Tötens zu durchbrechen?
Viele Jahrzehnte lang hat die Gesellschaft es versäumt, die tieferliegenden Probleme anzugehen, die in den armen Gegenden virulent sind. In den Gemeinden selbst herrscht ausgeprägter Altruismus, aber sie brauchen unbedingt Hilfe von außen.

Wie erklären Sie für sich selbst die Kultur der Gewalt, die Sie in Ihren Bildern thematisieren? Welche Rolle spielt die Logik der Drogenökonomie hier? Sprich: eine illegale Branche mit nie versiegender Nachfrage, die das schnelle Geld verheißt für die, die sich durchsetzen, und die als einzige Option wahrgenommen wird von denen, die sich abgehängt fühlen von den Aufstiegschancen, die Amerika verspricht, die Statussymbole zu erlangen, die die Gesellschaft belohnt? Könnte man sagen, dass Rassismus und eine gescheiterte, bigotte staatliche Drogenpolitik hier tragisch zusammenwirken?
Ja, ich glaube, all dies hat Einfluss auf das, was Jugendliche und ihre Familien heute erfahren. Rassismus ist natürlich immer schon der wichtigste Aspekt gewesen. Aspekte wie Diskriminierung bei der Wohnungsvergabe, Segregation und der Krieg gegen die Drogen hat die Gemeinschaften in Gegenden mit niedrigen Einkommen auseinandergerissen, in Chicago und in anderen US-Städten. Auch wenn die USA signifikante Fortschritte gemacht haben seit der Ära der Bürgerrechtsbewegung, gilt: Wer arm ist, muss sich komplett allein durchschlagen. Aufwärtsmobilität findet so gut wie nicht statt in den ärmsten Gegenden Chicagos.

Der Tod von Derrion Albert 2009 war eines der wenigen von Ihnen dokumentierten Ereignisse, die es in die nationalen Medien schafften. Der Rapper Nas hat diesen zum Anlass für einen offenen Brief an die „jungen Krieger“ Chicagos genommen, in dem er schreibt, dass diese „den falschen Kampf kämpfen“. Konnten Sie im Umfeld Ihrer Protagonisten beobachten, dass so etwas konkrete Konsequenzen hat?
Jene, die Leute wie Nas erreichen, sind mal die Opfer, mal die Täter. Welchen Einfluss so etwas auf die jungen Brüder hat, ist immer schwer einzuschätzen. Ich kann aber für mich selbst sagen, dass Hip-Hop meine eigene Weltsicht geprägt hat.

Welche Resonanz haben Sie mit Ihrem Projekt bis dato erfahren?
Das Feedback war aufschlussreich und eine Demut lehrende Erfahrung. Ich habe viel gelernt über Liebe und Widerstandskraft. Ich habe gelernt, dass das Menschsein tragisch und schön zugleich sein kann.

Haben Sie überhaupt die Hoffnung, dass Bilder die Wirklichkeit zum Positiven verändern können?
Ich glaube, dass Fotografien helfen können, einzelne Menschen zu verändern. Ich glaube nicht, dass Fotografien die Welt verändern können.

Und zum Schluss: Womit haben Sie bei Ihrem Projekt fotografiert?
Mit meiner M9, einem 28er und einem 35er und mit Polaroid.
ALLE BILDER AUF DIESER SEITE: © Carlos Javier Ortiz

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Los Marrón
© Los Marrón

Carlos Javier ist Regisseur, Kameramann und Dokumentarfotograf, der sich auf urbanes Leben, Waffengewalt, Rassismus, Armut und marginalisierte Gemeinschaften konzentriert. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich seine Karriere – nicht zuletzt durch ein Guggenheim-Stipendium im Jahr 2016 – von der Fotografie hin zu Film und Video entwickelt. Obwohl er Etikette als einschränkend betrachtet, sieht er sich selbst als Filmemacher und bildender Künstler. Die Arbeit im Medium der bildenden Kunst und des Journalismus bedeutet für ihn das Ausleben von Meinungsfreiheit und gibt ihm eine Stimme. Mehr

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